Zum 110. Geburtstag des britischen Mathematikers und Computerpioniers Alan Turing

Schon die Schule war ihm nicht genau genug

Hat der 1912 in London geborene Alan Turing „den Computer erfunden“, wie man immer wieder liest und hört? Wenn ja, wie ging das zu? Hat er Prototypen zusammengelötet, im Vorgriff auf das, was heute vom Riesenrechner im Forschungszentrum bis zur Minimaschine im Smartphone tagtäglich und überall Unmengen von Daten verarbeitet?

Wer sagt: „Karl Marx hat die DDR gegründet“, stellt vor einem komplizierten historischen Hintergrund eine unzutreffende, aber nicht ganz abwegige Beziehung zwischen dem Urheber einer großen Idee und einer historischen Tatsache her. Wer sagt, Turing habe „den Computer erfunden“, tut etwas Vergleichbares. Während aber Marx persönlich nie einen Staat gründete, war Alan Turing durchaus (auch) Tüftler. Schon als Schüler konstruierte er einen Füllfederhalter. Noch in den letzten Lebensjahren, nach offiziell nie gewürdigten Verdiensten im Kampf gegen die Wehrmacht und wegen seiner Homosexualität vom bigotten Staat Britannien grausam verfolgt, zog er sich häufig in sein „Albtraumzimmer“ zurück, wo er Unkrautvertilgungsmittel und Haushaltsreiniger zusammenrührte und mit riskanter Maschinerie für elektrische Kurzschlüsse sorgte.

Als Bastler zeigt ihn auch Morten Tyldums Spielfilm „The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben“ (2014). Turing wird darin von Benedict Cumberbatch verkörpert, der von Sherlock Holmes über Julian Assange bis zum Chirurgen und Magier Stephen Strange derzeit ohnehin alles spielt, was dem immer noch nicht ausgerotteten Klischee der imperialistischen Unterhaltungsindustrie trotzt, das fordert, ein Held müsse stets ein Schläger sein und meint, er habe kein Hirn nötig.

Turing war indes weit mehr als ein handwerklich begabter (Hobby-)Ingenieur. Entscheidend trug er nämlich zur theoretischen Grundlegung einer Wissenschaft bei, die das menschliche Denkvermögen so entlasten soll, wie das moderne Motorenwesen menschliche Muskelmühe zu ersparen hilft. Diese neue Wissenschaft heißt heute meist „Künstliche Intelligenz“ und ist einstweilen ein ziemlich unsortiertes Gemisch aus gesicherten Erkenntnissen (von denen die stabilsten eben Turing gefunden hat) und unbewiesenen Annahmen.

Wie Lenin vom Marxismus sagt, dieser habe drei Quellen, nämlich die klassische deutsche Philosophie, die klassische englische Wirtschaftstheorie und den französischen utopischen Sozialismus, kann man vom Forschungsprogramm „Künstliche Intelligenz“ sagen, dass seine Realisierbarkeit abhängt von dreierlei, nämlich 1. Wissen darüber, wie Menschen denken, 2. der formalisierten Lehre vom richtigen Schließen aus klaren Prämissen und 3. Alan Turings in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts erarbeiteten, epochalen Klärungen der Bedeutungsreichweite des Begriffs „Berechenbarkeit“.

Anstatt diesen dritten Punkt zu würdigen, starrt jedoch die nachgeborene Öffentlichkeit meist befangen und ehrfürchtig Turings Spätwerk an, insbesondere den Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“, den er 1950, vier Jahre vor seinem tragischen Tod, in der Zeitschrift „Mind“ veröffentlichte.

Das Stichwort für die betreffende Diskussion lautet „Turing-Test“ als Synonym für das „Imitationsspiel“, nach dem auch der Film mit Cumberbatch heißt. Es handelt sich dabei um ein Gedankenexperiment: Eine abgeschirmte Signalquelle führt ein Gespräch mit einem Menschen, bei dem dieser nicht weiß, ob besagte Quelle ein anderer Mensch ist oder eine Maschine, die Wörter und Regeln für die Konstruktion von Sätzen kennt sowie Vorschriften, aus denen sich (etwa anhand eines Reservoirs möglicher plausibler Satzbestandteile) mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Zeichenkette bauen lässt, die an Äußerungen des Menschen vor dem Trennschirm so anschließt, dass man sie für verständig halten kann (auf die Frage „Wo wohnst du?“ könnte also etwa ein Element aus einer Ortsnamen-Menge eine erlaubte Antwort sein und so weiter).

Von einer Signalquelle, bei der tatsächlich kein Mensch mehr entscheiden könnte, ob sie menschlich oder maschinell beschaffen ist, könnte man, so schlägt die Spekulation vor, wohl sagen, sie sei „intelligent“. Ob sie allerdings von sich selbst und ihren internen Zuständen etwas weiß, ob sie dabei etwas empfindet und dergleichen mehr, ist damit nicht entschieden. Man sollte es sich damit auch durchaus schwerer machen als der Google-Ingenieur Blake Lemoine, der Anfang Juni des laufenden Jahres die Welt mit der Behauptung verblüffte, ein von ihm betreutes Plapperprogramm besäße seiner persönlichen Überzeugung nach eine Seele. Solche obskurantistischen Schnellschüsse lenken spektakulär von der technikzeitgeschichtlich derzeit brisantesten Frage ab, nämlich die danach, wer eigentlich durch Kopfarbeit erzeugte Einrichtungen wofür nutzen darf, die halb- oder vollautomatisch das leisten können, was in der unbearbeiteten Natur nur die menschliche Kopfarbeit selbst kann. Bei Google sind das Programme, die gesellschaftlich vorhandene Neugier nutzen, um Suchwillige beim Suchen unbezahlte Datenarbeit verrichten zu lassen, die Googles Profite maximiert. Dabei besteht die entscheidende Kundschaft des Konzerns nicht aus den sogenannten „Usern“, welche vielmehr besagte Datenarbeit leisten, nämlich Spuren ihrer Interessen erzeugen, aus denen sich auf die zahlungsfähige Nachfrage für Waren und Dienstleistungen schließen lässt. Die wahre Kundschaft für das, was der Monopolist Google da unentgeltlich sammeln lässt, sind andere Kapitalisten und Monopole.

Hiernach soll aber nicht gefragt werden; Plattformen und Aufmerksamkeit stellen die Besitzenden dagegen nur allzu gern bereit für zwangsneurotisches Gegrübel wie: „Wenn ich im Taschenrechner ‚2 + 2‘ eingebe und das Gerät ‚4‘ ausspuckt, hat es das dann wirklich gerechnet, oder hat es diese Rechnung nur simuliert?“ Menschen mit zu viel Zeit verfangen sich bereitwillig darin – oder in noch konfuseren Konstruktionen der Machart „Tut das Auto nur so, als könnte es schneller laufen als ich, oder läuft es wirklich schneller, wobei, Moment, es läuft ja gar nicht, es fährt, nein, falsch, es fährt ja gar nicht, sondern ein Mensch fährt es, es sei denn, es ist zum Fahren programmiert, dann fährt es alleine, nur hat es in diesem Fall letztlich auch wieder ein Mensch programmiert, es sei denn, wir hätten bereits Programme, die schon selbstständig Programme schreiben, aber diese Programme …“

Erheblich Erkenntnisträchtigeres steht in Alan Turings wohl wichtigstem Text, einer Arbeit aus dem Jahr 1936, erstmals veröffentlicht im Januar des darauffolgenden Jahres unter dem Titel „On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem“.

Das letzte Wort im Titel bezieht sich auf eine Frage, die der deutsche Mathematiker David Hilbert seiner Fachgemeinschaft gestellt hatte: Gibt es ein Verfahren, das für einen beliebigen Satz in der Sprache eines Zeichensystems, mit dem man logische Behauptungen aufstellen, auseinander ableiten oder als widersprüchlich erweisen kann, immer und jederzeit entscheiden kann, ob der Satz wahr ist?

Schritt-für-Schritt-Verfahren, die aus bekannten Wahrheiten weitere, nicht auf den ersten Blick offensichtliche Wahrheiten herausziehen können, kennt die Menschenvernunft seit Jahrtausenden. Sie helfen bei Kettenbrüchen oder bei der Multiplikation gemäß Tafeln, die das Rechnen abkürzen. Manche von ihnen sind „rekursiv“, das heißt, sie kommen bei der Anwendung schnell „in sich selbst vor“, werden im Laufe des Argumentationsgangs auf sich selbst angewendet und so weiter. Alle mathematisch sachdienlichen Schritt-für-Schritt-Operationen nennt man heute nach einem großen arabischen Dompteur der wilden Welt der Wurzeln und Quadrate aus dem achten und neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung namens Al-Chwarizmi allgemein „Algorithmen“.

Alan Turing rückte Hilberts Entscheidungsproblem mit einem algorithmenkompatiblen Instrumenten-arsenal zu Leibe, das uns computergewohnten Gegenwartsmenschen selbstverständlich vorkommt – speziell: mit dem Trick, allerlei „in Zahlen auszudrücken“. Dass ein Bild, ein Musikstück, ein Schnittmuster oder ein Aufmarschplan sich in Zahlengestalt, nämlich etwa im Binärcode aus 0 und 1, als „Datei“ codieren lässt, weiß ja inzwischen jedes Kind. Wie genau Turing freilich weitläufige mathematische Gegenstände (selbst wiederum oft: Zahlen) in Gestalt von Zahlen abkürzte, mit denen sich, wie mit allen Zahlen, halt gut rechnen, folgern, kalkulieren lässt, das war eine echte Pioniertat: Seine interessantesten Zahlenabkürzungen standen für durchnummerierte, abstrakte „Maschinen“, von denen er definitorisch festlegte, dass sie imstande sind, den jeweiligen, von der passenden Maschinennummer wie von einem Eigennamen abgekürzten Gegenstand zu berechnen. Die Kreiszahl Pi etwa, die für die Berechnung vieler Prozesse in der Natur unerlässlich ist, besteht ja in geläufiger Darstellung aus einer Drei, einem Komma und unendlich vielen, nach keiner erkennbaren Regel aufeinander folgenden weiteren Stellen: 3,1415926 …

Das ist unhandlich. Man kann aber, statt zu versuchen, Pi auszuschreiben, auch mit einer Maschine rechnen, die in einer Menge abzählbarer Maschinen dieser Art irgendeine Nummer zugewiesen kriegt – Maschine Nummer 50.000 etwa –, einer Maschine, von der nur bekannt sein muss: Sie kann, Schritt für Schritt und unendlich lange, mithilfe ihres Programms alle Stellen von Pi berechnen.
Turings Minimalmodell einer entsprechenden Maschine besteht aus dem Apparat selbst und einem potenziell endlosen Papierstreifen, der in freie Felder unterteilt ist, auf denen irgendein Symbol aus einer endlichen Menge solcher Symbole stehen kann oder gar nichts. Die Maschine besitzt einen Lesekopf, der jeweils die Aufschrift (oder das Nichts) auf so einem Feld liest und als Reaktion darauf nach Regeln, die gleichsam in die Maschine eingebaut sind (sie hat zwei Speicher: einen mit Registern für gespeicherte Symbole, einen mit den Rechenanweisungen, denen sie folgen muss, den Programmen, Algorithmen), das Symbol auf dem Feld austauschen, das Band ein Feld nach rechts oder links verschieben und ihren inneren Zustand entweder ändern kann oder so lassen, wie er ist. Diese wenigen Zutaten genügten Turing, um einen Beweis dafür zu bauen, dass das, was Hilbert sich gewünscht hat, leider prinzipiell unmöglich ist.
Turings Hinterlassenschaft ist somit vornehmlich etwas Abstraktes: Wer so denkt, wie dieser Mann dachte, kann nicht nur maschinenverschlüsselte Codes knacken oder heikle Fragen im verminten Grenzgebiet zwischen Mathematik und Philosophie in Aufgaben für Automaten verwandeln, sondern vor allem die Grenze erkennen, die zwischen einerseits dem liegt, was bei Marx und Engels „Reich der Notwendigkeit“ heißt, also dem weiten Areal des Determinismus, bei dem dasselbe Handeln immer dasselbe Ergebnis haben muss, und andererseits dem komplementären „Reich der Freiheit“.

In Kenntnis dieser Grenze lässt sich nicht zuletzt auch das Problem des Plans gesellschaftlich nötiger Produktion klarer sehen als ohne diese Kenntnis, samt Ressourcenallokation, Kennziffern, Wahrscheinlichkeiten, inklusive Unerlässlichkeit von „Reserve- oder Assekuranzfonds gegen Mißfälle, Störungen durch Naturereignisse etc.“, von denen Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“ mit weiser Gelassenheit schreibt: „Diese Abzüge vom ‚unverkürzten Arbeitsertrag‘ sind eine ökonomische Notwendigkeit, und ihre Größe ist zu bestimmen nach vorhandenen Mitteln und Kräften, zum Teil durch Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber sie sind in keiner Weise aus der Gerechtigkeit kalkulierbar.“ Das zu begreifen heißt eben nicht, sich von der Gerechtigkeit zu verabschieden, sondern es bedeutet im Gegenteil, dass man sich sehr genau mit ihren Möglichkeitsbedingungen befasst, um ihr Geltung zu verschaffen, wo das geht.

Wer nach Freiheit, Glück und Zukunft fragt, wird daher Alan Turings großes Erbe dankbar annehmen und mehren, ohne Angst vor Denkverboten und Autoritäten. So hielt es Turing selbst bereits als Schulkind, das sich selbstbewusst beschwerte: „Der Lehrer hat ‚x‘ ganz falsch erklärt.“ Der Junge wollte damit sagen, dass der phantasielose Pauker nicht zu vermitteln verstand, was eine Variable ist: ein kleines Modell des Reichs der Freiheit mitten im Reich der Notwendigkeit.

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"Schon die Schule war ihm nicht genau genug", UZ vom 24. Juni 2022



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