Nach Ansicht der „Wirtschaftsweisen“ läuft die Konjunktur in Deutschland bereits heiß

Schönreden oder Realität?

Von Lucas Zeise

Deutschland im Boom. Diese Aussage gehört zum Standardrepertoire etablierter Politik, sie mag schwarz, grün, gelb, rosa oder auch bräunlich sein. Tatsächlich scheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht allzu schlecht und deutlich besser, als sie in der tiefen Konjunkturkrise 2008/09 waren oder auch zu Zeiten (2003), als Gerhard Schröder dem Volk die „Agenda 2010“ verordnete. Dieses Programm der Lohndämpfung oder Lohnkürzung und der tiefen Einschnitte in die Renten, die Arbeitslosenunterstützung und die Sozialhilfe gilt bei den Unternehmerverbänden und ihren Parteien immer noch als wirtschaftspolitisch erfolgreiche Maßnahme. Das klassische und brutale Mittel der „Austerität“ habe vor allem die Arbeitslosigkeit in Deutschland erfolgreich reduziert. Das damals wie heute angeführte Unternehmerargument, es würden mehr Arbeitskräfte nachgefragt und mehr Arbeiter eingestellt, wenn der Preis der Arbeitskraft, der Lohn geringer werde, scheint mit dem Blick auf die Statistik berechtigt zu sein: Die im Herbst 2017 gemeldete Zahl der Arbeitslosen von 2,4 Millionen sei niedriger als je nach 1990, dem furchtbaren Jahr der deutschen Einigung.

Man kann sich die Statistik auch genauer ansehen: Dann ergibt sich, dass einschließlich der über 58-Jährigen, der Kranken und solcher Personen, die sich in einer Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme befinden, die alle zwar Arbeit suchen, aber in der Statistik nicht aufgeführt werden, die Zahl der Arbeitslosen in Wirklichkeit 3,3 Millionen beträgt. Zu erwähnen ist auch, dass von den mittlerweile 15,3 Millionen Teilzeitbeschäftigten mindestens zwei Millionen lieber einen Vollzeitjob und entsprechende Bezahlung hätten. Zählt man auch diese Personen hinzu, kommt man auf eine Gesamtzahl der unfreiwillig Arbeitslosen von mehr als fünf Millionen. Die offizielle Arbeitslosenzahl im zweiten Jahr des geeinten Reiches anno 1992 betrug 2,6 Millionen. Danach folgte ein furioser Anstieg der Arbeitslosigkeit. Den höchsten Stand erreichte die offiziell gemessene Arbeitslosenzahl in Deutschland 2005 mit 4,86 Millionen. Das war zugleich das Jahr, als Deutschland vom weltweiten Expansionsboom erfasst wurde, die Exporte wieder nach oben schnellten und die Konjunktur nach der längsten Stagnationsperiode seit dem 2. Weltkrieg wieder Schwung verspürte.

Der Schwung hielt zweieinhalb Jahre an. 2007 kam die große Finanzkrise dazwischen, die die Weltkonjunktur 2008/09 in die schärfste Rezession ebenfalls seit dem 2. Weltkrieg trieb. Gemessen am unerhörten Absturz der Industrie um je nach Branche zweistellige Prozentsätze und der Gesamtwirtschaft um gut 5 Prozent war der Anstieg der Arbeitslosenzahlen in der Krise mäßig. Die Grenze von vier Millionen wurde nicht überschritten. Es kam zu einer Vereinbarung des Arbeitgeberverbandes „Gesamtmetall“ mit der IG Metall, wobei Letztere auf Lohnsteigerung verzichtete, die Manager des Industriekapitals dafür von Entlassungen weitgehend absahen. Diesen Kompromiss bezahlte die Arbeitslosenversicherung in Form von Kurzarbeitergeld. 2009 war in Deutschland nicht nur Krisenjahr, sondern auch das Jahr des Aufschwungs. Der Deal zur „Sicherung des Industriestandortes Deutschland“ trug dazu bei, dass deutsche Konzerne überall auf der Welt Marktanteile gewannen und dass dank kräftig steigender Exporte die Erholung nach dem tiefen Einbruch kräftiger ausfiel als anderswo.

Die Krise von 2007 ff. bedeutete einen Einschnitt in der kapitalistischen Weltwirtschaft. Das Wachstum von Welthandel und Produktion ist deutlich niedriger als zuvor. Die Ökonomen sprechen von „säkularer Stagnation“. Auch in Deutschland ist das offiziell berechnete Wirtschaftswachstum in den letzten neun Jahren im Durchschnitt nicht über 1 Prozent hinausgekommen. Selbst wenn es in diesem Jahr 1,2 Prozent Realwachstum werden sollten, ist es doch kühn, von Aufschwung oder gar „Boom“ zu sprechen. Der Sachverständigenrat (SVR) geht noch weiter. In seinem vor zwei Wochen vorgestellten Jahresgutachten warnt er vor „Überhitzung“. Explizit hält dieses wichtigste offizielle Beratergremium der Bundesregierung in Sachen Ökonomie mit 1,2 Prozent plus die Grenze des „Wachstumspotenzials“ der Wirtschaft für erreicht. Sonderbarerweise beklagen die „Wirtschaftsweisen“ dann weniger den niedrigen Stand der Investitionen, besonders die des Staates, sondern sie konstruieren mit extrem dünner Begründung Arbeitskräftemangel. Gemeint ist wahrscheinlich, dass gut qualifizierte Arbeitskräfte nicht immer und überall spottbillig zu haben sind.

Boom oder Stagnation? Was man konstatiert, ist wie immer auch eine Frage der Perspektive. Thomas Mayer, früher Chefvolkswirt der Deutschen Bank, hat in seiner Kolumne in der FAZ die offiziell gemessene Inflationsrate (von aktuell plus 1,8 Prozent im Jahr) in Frage gestellt. Die Inflationsrate wird aus der Preisentwicklung der Verbrauchsgüter als Index der Lebenshaltungskosten berechnet. Meyer bemerkt scheinbar naiv, dass in diesem Index Immobilien und Aktien und andere Vermögenswerte nicht enthalten sind. Deren Preise seien aber deutlich stärker als die der Verbrauchsgüter gestiegen. Wie recht er hat! Zugleich ist es ein wenig albern, die beiden Warenkategorien gleich behandeln zu wollen. Wenn Benzin, Mohrrüben und Brötchen teurer werden, macht das die Verbraucher ärmer. Wenn aber die Vermögenswerte teurer werden, macht das die Vermögenden reicher. Deshalb haben steigende Aktienkurse schließlich eine gute Presse. Mayers naiv-alberner Bemerkung gibt aber einen Hinweis darauf, wer den Zustand der Wirtschaft wie beurteilt. Der Boom, den die Sachverständigen und das Kapital feststellen, findet ja statt. Die Gewinne sprudeln nun schon im 9. Jahr seit Beginn der Krise. Die Preise für Immobilien und Aktien zeigen in der Tat Zeichen von „Überhitzung“. In den Fabrikhallen, in den Büros und bei der Arbeitsagentur ist es dagegen unverändert kalt.

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"Schönreden oder Realität?", UZ vom 24. November 2017



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