Deutschland in der nahen Zukunft. Der Klimawandel hat die Küstenregionen nahezu unbewohnbar gemacht, permanenter Sommer liegt über dem Land. Individualverkehr existiert außer per Fahrrad oder zu leihenden eMobilen nicht mehr, es gilt die 20-Stunden-Woche und es herrscht relativer Wohlstand für (fast) alle. Seuchen und lebensbedrohende Krankheiten sind ausgerottet. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt in Mega-Cities, die Hauptstadt Frankfurt umfasst das komplette Rhein-Main-Gebiet, Berlin ist nur noch eine Kulisse für Touristen. Ein gutes Leben, komfortabel und sicher. Ein Alptraum.
Zoё Beck packt auch in ihrem neuen Endzeit-Noir-Thriller relevante Themen der Zeit an. Pandemien, Klimawandel, Ausgrenzung Andersdenkender. Als sie die Geschichte erarbeitete, war Covid-19 noch nicht in Sicht. „Paradise City“ kommt vielleicht deshalb jetzt noch plausibler und realistischer daher.
Liina, Rechercheurin bei einem der wenigen noch unabhängigen Nachrichtenportale, ist in Mecklenburg unterwegs. Die Ureinwohner führen ein klägliches Leben, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Flora und Fauna suchen und finden Wege in ehemals bewohntes Terrain. In einem der Käffer soll Liina einen Typen interviewen, der eine Frauenleiche mit Schakalbissen gesehen haben will. Ein überflüssiger Job, diese Art Meldungen häufen sich und weisen immer auf Vertuschungsaktionen der Regierung hin. Sie weiß das, ihr Chef und Liebhaber Yassin weiß das. Und obwohl er an einer großen Sache dran ist, schickt er sie in die Ödnis.
In eingeschobenen Kapiteln erzählt Zoë Beck von Kindheit und Jugend ihrer Protagonistin:
Die Neugier treibt die junge Liina ins sogenannte Hinterland zu den Parallelen. Menschen, die das System ablehnen und dort vor sich hin vegetieren. Eine Lüge. Zwar sind sie von moderner Technik (Gas, Strom, Internet) weitgehend abgeschnitten, doch können sie so auch nicht restlos überwacht werden. Irgendwann ist das Gebiet geräumt, Schilder kündigen den Einzug der Zivilisation an. Etwa zu dieser Zeit erfährt sie, dass sie ein neues Herz braucht, bricht alle Kontakte ab, geht nach Finnland. Acht Jahren später macht auch das zweite Herz schlapp. Wieder in Frankfurt wird Liina ein drittes Leben geschenkt. Der Preis ist hoch.
Zurück aus der Einöde, erfährt Liina von Yassins schwerem Unfall und dem Mord an einer berühmten Journalistin, mit der er zeitweise zusammenarbeitete. Zufall? Wohl kaum. Liina und das Team gehen der Sache auf den Grund. Einem Verdacht nachgehend, trifft Liina ihre einstige Freundin und heutige Gesundheitsministerin Simona. Doch das Gespräch verwirrt sie eher, als dass es sie weiterbringt. Auch ihre Schakalstory wird immer mysteriöser. Und dann erkennt sie Zusammenhänge, mit Simona als Schnittstelle und der Toten in Mecklenburg als Schlüssel.
Bald überschlagen sich die Ereignisse, Königin Zufall eilt zur Hilfe, und im Showdown gibt es eine dicke Überraschung für die Journalistinnen.
In „Paradise City“ entwirft die Autorin das dystopische Bild einer Gesellschaft, in der es keinem an etwas mangelt. Es gibt genügend Arbeitsplätze, genügend Wohnungen und ein Gesundheitssystem ohne offensichtlichen Makel. Dafür existiert (fast) keine freie Presse, die Überwachung ist nahezu lückenlos. Zoë Beck denkt die Digitalisierung, etwa einer Gesundheits-App, konsequent zu Ende. Im Buch übernimmt KOS für jeden Bürger der Mega-Cities die Überwachung des Gesundheitszustandes, die Medikation, Rettungsteam-Einsätze, Klinik-Einweisungen. Bedrohliche medizinische Unklarheiten sind nicht Teil des Systems. Und das verselbstständigt sich. Es bestimmt, wer wert ist zu leben, sprich gesund und produktiv genug. In der Konsequenz heißt das: die App entscheidet über Leben und Tod.
Zoé Beck ist wieder ein brisanter, Politthriller gelungen. Ihre weibliche Perspektive auf Machtstrukturen und deren Folgen durch technische Entwicklungen ist flott geschrieben, spannend und dabei eine scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen.
Zoë Beck
Paradise City
Suhrkamp 2020
Pb. 281 Seiten, 16,- Euro