Versuch eines lesenden Arbeiters, vor lauter digitalen Bäumen den Wald nicht aus dem Auge zu verlieren

Schöne deformierte Arbeitswelt

Von Lothar Geisler

schoene deformierte arbeitswelt - Schöne deformierte Arbeitswelt - Arbeitswelt, Kapitalismus, Politisches Buch - Theorie & Geschichte

Das aktuelle Heft der Marxistischen Blätter ist beim Neue Impulse Verlag erhältlich.

info@neue-impulse-verlag.de

Eins. Vernetzt in die Zukunft

Da kann einem schon der Kopf brummen, bei all dem, was sich da an rasanten Umbrüchen zukünftig auch in der Produzentenwelt „entlang der Wertschöpfungskette“[1] abzeichnet: Cyber-physische Systeme (CPS), Cyber Physical Production Systems (CPPS), Enterprise Resource Planning Systems (ERP-System), PPS (Produktionsplanungs- und Steuerungssystem), Cloudworking, Crowdsourcing etc. pp. Worum geht’s da im Kern? Keineswegs nur um neue Technik, sondern auch um Neu-Organisation von der Planung über den Produktionsprozess bis zum Vertrieb. Kurz: Um die Vision einer umfassenden Vernetzung von (produzierenden und konsumierenden) Menschen mit (rechnenden und produzierenden) Maschinen im WorldWideWeb, wobei die Maschinen, ausgestattet mit Sensoren, immer mehr Daten sammeln, diese immer schneller verwerten und sich immer mehr selbst steuern sollen. Dort, wo in der Vergangenheit menschliche Entscheidungen, Eingriffe und Arbeitskraft „zwischengeschaltet“ waren, regeln vernetzte „Denkzeuge“ vieles (scheinbar) von selbst, laufen sozusagen auf „Autopilot“. Noch verkürzter: ins „Internet der Dinge“ (Kühlschrank an Händler: Milch ist aus!) soll auch die industrielle Produktion eingebettet werden.

Im Mitarbeitermagazin des Chemiekonzerns Evonik lese ich in der Titelstory[2] „Die neue Datenwelt revolutioniert bisherige Denk- und Arbeitsweisen. Evonik mischt bei diesem Wandel kräftig mit. Industrie 4.0: DAS WIRD SMART“. Es gehe um ganz neue Produkte, Kunststoffe für 3-D-Drucker, weiche Materialien für Roboter, die künftig Seite an Seite mit Menschen arbeiten sollen und Werkstoffe, die selbst als Sensor, als Daten- oder Energiespeicher fungieren. Es gehe um mehr Flexibilität, um modulare und flexible Anlagenkonzepte, die es dem Konzern angesichts kürzerer Produktions- und Innovationszyklen bei seinen Kunden erlauben, neue Produkte schneller und auch in kleineren Mengen wirtschaftlich herzustellen …

Wie das konkret funktionieren soll ist noch Gegenstand von Forschungs- und Pilotprojekten, z. B. über das staatlich geförderte, d. h. von unseren Steuergeldern finanzierte Projekt SIDAP. Der Name sagt, um was es geht: ein „Skalierbares Integrationskonzept zur Datenaggregation, -analyse und -aufbereitung von großen Datenmengen in der Prozessindustrie“. Evonik, IBM und die TU München erproben dieses Sammeln und Verwerten großer Datenmengen in Produktionsprozessen praktisch und erarbeiten gemeinsame Standards. Eine andere Forschungsgruppe mit Namen „Manufacturing Intelligence“ erforsche derweil, wie Computer Muster in wachsenden Datenbergen erkennen und nutzbar machen können. Und in einem weiteren Pilotprojekt werde gemeinsam mit einem Gerätehersteller am Beispiel eines Ventils erforscht, welche Daten es überhaupt brauche, wie sie ausgetauscht, aufbereitet, verschlüsselt und geschützt werden. Denn die „smarte Fabrik“ brauche „smarte Komponenten“, d. h. auch Ventile, Pumpen und Behälter sollen „smarter“ werden.

Große Aufgaben hat bei diesem Umbau insbesondere die Konzern-IT zu leisten, die bereits 2014 zu einem „Global IT & Process Center“ umgebaut wurde. Seine neue Leiterin formuliert mit Blick auf die Zukunft Sorgen um Know-how-Schutz bzw. IT-Sicherheit. Ganz andere Sorgen haben derweil gut 1000 Evonik-MitarbeiterInnen aus der Verwaltung, z. B. den „Financial Services“ (Buchhaltung) und sogar der internen IT, weil ihre Arbeitsplätze als überflüssig wegrationalisiert worden sind. Davon steht nichts in der Titelstory über das so schön „smarte manufacturing“ oder darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat. In der vielzitierten Studie der ING.DiBa ist hingegen zu lesen, in welchen Tätigkeitsbereichen dieser neuerliche Technologieschub am meisten lebendige Arbeit überflüssig macht: administrative Tätigkeiten (Büro/Sekretariat/Sachbearbeitung), Hilfsarbeitstätigkeiten (z. B. Lagerwirtschaft/Logistik), Mechaniker, Fahrzeugführer und Maschinenbediener.

Zwei. Der alte, harte Wesenskern

Egal, welches neue Label man den aktuellen technischen und organisatorischen Umbrüchen in der Arbeitswelt verpasst – „Industrie 4.0“, „Smart Factory“, „Office 2.0“, „Wirtschaft 4.0“, „Digitale Transformation“, „Zweites Maschinenzeitalter“, „Digitalisierung der Arbeitswelt“, „Industrial Internet“… –, ihr harter Wesenskern ist bei aller wirklich neuen Qualität, bei aller Fülle wirklich neuer, (auch für den Marxismus als Wissenschaft) noch ungeklärter Detailfragen, arbeitenden Menschen mit ganz wenigen alt-eingeführten Begriffen hinreichend begreifbar zu machen, mit Begriffen wie z. B. „Automatisierung“, „Flexibilisierung“, „Rationalisierung“, „Intensivierung“, „Profitmaximierung“ etc.

Man muss also als lesender Arbeiter nicht auf jeden „Alles-ist-so-neu“-Hype abfahren. Vor allem aus zwei Gründen. Der erste: die hinter den konkreten Dingen und neuen Entwicklungen steckenden Motive und Triebkräfte des Kapitals sind und bleiben die alten. Der zweite: die Erinnerungsbrücke zu den bis heute gemachten (Klassenkampf-)Erfahrungen mit „industrieller Revolution“ und den bisherigen Gestaltungskonzepten und -instrumenten kann so anschaulicher geschlagen werden.[3] Denn bei aller Wichtigkeit neuer Kampf­erfahrungen, z. B. der „neuen Clickarbeiter“ oder der KollegInnen beim Onlinehändler Amazon[4], verlieren die älteren ja nicht an Bedeutung.

Und was ist nun dieser alte, harte Wesenskern? Vor gut 30 Jahren, als das Bündnis zwischen marxistischen WissenschaftlerInnen und der Arbeiterbewegung noch enger war und beide noch stärker waren, wurde er so formuliert: „… neue Arbeitsmittel, die bestimmte Formen menschlicher Tätigkeit ersetzen, aber Instrumente menschlichen Handelns sind …, werden unter kapitalistischen Klassen- und Eigentumsverhältnissen als Produktivkräfte des Kapitals entwickelt, sind insofern keine ‚neutrale‘ Technik, sondern Mittel der Intensivierung und Ökonomisierung der Kapitalreproduktion, was die Gestaltung ihrer betrieblichen Einsatz- und Anwendungsformen wesentlich beeinflusst. Ihre Universalität hebt ihre Bindung an das einzelkapitalistische Verwertungsinteresse nicht auf, ihre Anwendung bewegt sich vielmehr innerhalb des Widerspruchs von einzelbetrieblicher Rationalität und gesamtgesellschaftlicher Konkurrenz. Sie sind Instrumente kapitalistischer, auf Intensivierung von Lohnarbeit gerichteter Rationalisierung und nicht Mittel bewusster, geplanter Entfaltung von Persönlichkeit und Produktivkräften der Individuen.“ [5]

Wen wundert’s da, dass die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in ihrem Positionspapier zur Digitalisierung (Mai 2015) weiter voll auf Wettbewerbs- und Standortlogik setzt und neue Chancen sieht für eine noch offensivere Deregulierung der Arbeits-, Sozial- und Mitbestimmungsrechte, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Abbau der Reste sozialstaatlicher Regelungen: also mehr Leiharbeit, mehr Werk- und Dienstverträge, mehr Befristungen. Statt einer täglichen Höchstarbeitszeit von acht Stunden soll es eine wöchentliche von 48 Stunden geben. Die Betriebsverfassung soll der absehbaren höheren Geschwindigkeit bei Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen angepasst werden. „Verzögerungspotentiale“ – gemeint sind Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte – sollen abgebaut werden. Das ist das, was auch Frau Merkel als „marktkonforme Demokratie“ durchsetzen will. Und wenn der BDA-Chef all das ausspricht, vergiftet er keineswegs die Debatte um Arbeiten 4.0, wie Kollegin Buntenbach (DGB) kritisiert. Er verdeutlicht vielmehr: Das Interesse des Monopolkapitals ist das Gift, das mit Blick auf die Gesamtheit der Produktivkraftentwicklung all das Sorgen machend Destruktive hervorbringt. Das vorrangige Problem ist nicht die technische Revolution, sondern die überfällige soziale …

Stark gekürzter Vorabdruck aus Marxistische Blätter „Arbeitswelt 4.0“

Anmerkungen:

[1]    Unter Wertschöpfung verstehen bürgerliche Ökonomen die Größe, um die der Wert des Outputs einer Produktion, den Wert ihres Inputs übersteigt. Sie reden von Wertschöpfungskreisen, -ketten, -netzwerken und lassen gerne im Nebel, was Wert ist und wie er vermehrt wird – nämlich durch Arbeitskraft! Gewerkschafter und Linke sollten das besser immer betonen, bevor sie sich auf dieses Wording einlassen.

[2]    Folio 1/Februar 2016, Seite 12 ff.

[3]    Was auch ein wenig davor schützen mag, der ‚digitalen Transformation‘ an sich oder aus sich heraus ein weitergehendes Transformationspotenzial anzudichten.

[4]    Joern Boewe, Johannes Schulten „Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten“, Labor des Widerstands: Gewerkschaftliche Organisierung im Onlinehandel, Analysen der Rosa-Luxemburg-Stiftung

[5]    André Leisewitz, „Wissenschaftlich-technische Revolution und deformierte Produktivkraftentwicklung“, in: IMSF Jahrbuch 13, 1987, Seite 19.

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"Schöne deformierte Arbeitswelt", UZ vom 29. April 2016



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