Der erste, der Bescheid wusste, war Boris Pistorius. Am Sonntag, dem 17. November, war in der Ostsee ein Datenkabel durchtrennt worden, das Litauen und Schweden verband. Am Montag, dem 18. November, ging ein zweites Datenkabel kaputt, das zwischen Deutschland und Finnland verlief. Am 19. November – die Fachwelt rätselte noch, was da wohl auf dem Meeresgrund geschehen war – gab der deutsche Verteidigungsminister bekannt, „niemand“ glaube, „dass diese Kabel aus Versehen durchtrennt worden sind“. Und während selbst am 21. November Christian Bueger, Spezialist für maritime Sicherheit an der Universität in Kopenhagen, bekennen musste, man wisse immer noch nicht, wer die Kabel durchtrennt habe und warum, hatte Sherlock Pistorius den rätselhaften Fall längst gelöst. Es müsse sich, das hatte er schon am 19. November messerscharf geschlossen, um „eine hybride Aktion“, um „Sabotage“ handeln. Beweise habe man nicht, aber es könne gar nicht anders sein.
Der Schnappreflex, auf den sich Außenpolitik in den NATO-Staaten seit geraumer Zeit reduziert, beginnt inzwischen so manchem Experten auf die Nerven zu gehen. Bünger etwa ätzte am 21. November, er finde Pistorius‘ unbelegte Äußerung doch eher „überraschend“ und „verfrüht“. Einen Tag später ließ sich Charly Salonius-Pasternak vom „Finnish Institute of International Affairs“ mit der warnenden Äußerung zitieren, es gebe ein Milieu, „das hybride Operationen in absolut allem“ wahrnehme; davor müsse man warnen. Gleichzeitig dürfe man nicht die Augen verschließen, fügte Salonius-Pasternak hinzu: Wenn sich Zufälle allzu sehr häuften, wenn das Timing allzu perfekt sei, dann müsse man „Schlüsse ziehen“. Manche erinnerten denn auch daran, dass im Oktober vergangenen Jahres das in Hongkong registrierte Schiff „Newnew Polar Bear“ die Erdgaspipeline Balticconnector zwischen Finnland und Estland ernstlich beschädigt habe. China habe das nach einer Untersuchung des Falles schließlich eingeräumt. Und es stimme auch: Das Schiff befinde sich in russischem Besitz und sei von Kaliningrad aus aufgebrochen, wo eine neue Crew an Bord gegangen sei.
Im Fall der jetzt beschädigten Datenkabel haben auch Experten inzwischen den chinesischen Frachter „Yi Peng 3“ im Visier. Das Schiff, bei Sankt Petersburg aufgebrochen, soll in der Nähe der Schadensstellen auffällig langsam gekreuzt sein – und zwar genau zu den Zeitpunkten, zu denen die Schäden entstanden. Ein verdächtiger Zufall ist das schon, wenngleich auch andere Schiffe zur entsprechenden Zeit nahe den betreffenden Orten unterwegs waren. Doch selbst wenn die „Yi Peng 3“ genutzt worden sein sollte, um die Datenkabel zu beschädigen: Was heißt das dann? Man weiß: Der erste große Fall, bei dem Infrastruktur auf dem Meeresboden der Ostsee zerstört wurde, war die Sprengung der Pipelines Nord Stream 1 und 2. Sogar im Westen wurden bislang als potenzielle Täter gewöhnlich nur die USA oder die Ukraine mit klammheimlicher Unterstützung Polens genannt. Kann man wirklich davon ausgehen, dass die Tat unbeantwortet bleibt? Das tut nicht einmal die NATO; sie setzt seit geraumer Zeit viel daran, die Infrastruktur auf dem Meeresboden zu sichern. Russland hat zudem angekündigt, es werde auf die immer weiter reichende Unterstützung des Westens für die Ukraine antworten. Wer sagt, dass dies nicht auf dem Meeresboden geschieht?
Nun, niemand weiß es. Und was China angeht: Der Sache nach hätte es durchaus Grund, auf die stetigen westlichen Provokationen in der Straße von Taiwan, im Südchinesischen Meer sowie im Pazifik mit einem Tritt vor westliche Schienbeine zu reagieren. Bueger – und nicht nur er – erklärte, er halte das dennoch für unwahrscheinlich und wäre „super überrascht“, sollte Peking tatsächlich zu Gegenmaßnahmen in der Ostsee greifen. Falls dem aber doch so wäre? Nun, dann müsste man daran erinnern, dass all das Gegenmaßnahmen sind – und dass man sie ganz einfach abstellen kann, indem man die eigenen Provokationen in asiatischen Gewässern beendet. Nur: Dann hätte Sherlock Pistorius, der immer weiß, dass es Russland – oder China? – war, keinen Grund mehr, brutalstmögliche Aufrüstung zu fordern. Deshalb bleibt es in den NATO-Staaten, die klar auf militärische Lösungen setzen, strikt beim antirussischen oder antichinesischen Schnappreflex.