Eine Doku zeigt, wie Jeremy Corbyn systematisch zerlegt wurde

Schmutz, der kleben bleibt

Eine halbe Million Menschen traten um das Jahr 2015 herum in die Labour Party ein, als Jeremy Corbyn deren Vorsitzender wurde. Christopher Reeves Dokumentarfilm „Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge“ zeichnet jetzt in 80 spannenden Minuten nach, wie eine Allianz aus Labour-Hauptamtlichen, rechtem Parteiflügel und Mainstream-Medien kurz darauf zur Hexenjagd gegen Corbyn und dessen Unterstützer blies.

Zu Wort kommen vor allem prominente Unterstützer Corbyns wie Andrew Murray, dessen Berater von 2018 bis 2020, der ehemalige Parlamentsabgeordnete Chris Williamson, Graham Bash (Jewish Voice for Labour), Jackie Walker, ehemals Stellvertretende Vorsitzende von Momentum, oder Regisseur Ken Loach. Schnelle Schnitte sorgen für Kurzweiligkeit. Immer wieder wird ein Ausschnitt aus einer Rede Corbyns eingeblendet, in dem er, begleitet von Zuhörern aus dem Off, „We are many, they are few“ sagt – wir sind viele, sie, das Establishment, nur wenige. Es klingt wie ein Mantra und verleiht der Doku Rhythmus. Der Schauspieler und Comedian Alexei Sayle, Kind kommunistischer Eltern, fungiert als Erzähler aus dem Off.

Aufnahmen großer Demonstrationen und Kundgebungen, auch von Corbyns legendärem Auftritt 2017 auf dem Glastonbury Festival vor tausenden jungen Menschen, vermitteln eingangs ein Gefühl für die Aufbruchstimmung unter Corbyn. Der Film kommt dann schnell auf die Frage zu sprechen, woran das Projekt scheiterte – und wer dafür verantwortlich ist.

Bei der Unterhauswahl 2017 hatten Corbyn und seine Unterstützer bewiesen, dass mit glaubwürdigen sozial- und friedenspolitischen Forderungen Wählerstimmen zu holen sind. Zwar gewann Labour die Wahl nicht, die Partei fuhr aber entgegen aller Prognosen die höchsten Zugewinne seit 1945 ein. Spätestens jetzt ging der herrschenden Klasse die Muffe.

Die Medien startete eine Schmierenkampagne, die verfing: Sie warfen Corbyn Antisemitismus vor. Dazu definierten sie und Vertreter des rechten Labour-Flügels Antizionismus zu Antisemitismus um und logen so Corbyns jahrzehntelanges Engagement gegen die Kolonisierung Palästinas zum Judenhass um. Das war so perfide wie geschickt. Corbyn tappte in die Falle. Statt anzuprangern, wie Antisemitismus zur Waffe gegen Labours Parteilinke umfunktioniert worden war, entschuldigte er sich bei all denjenigen, die sich durch seine Aussagen verletzt fühlen könnten. Das sei ein Fehler gewesen, erklärt Andrew Murray selbstkritisch.

Im weiteren Verlauf beleuchtet der Film anhand geleakter WhatsApp-Kommunikation aus dem Labour-Apparat, wie Parteifunktionäre und viele von Labours Parlamentsabgeordneten offen und verdeckt Corbyn und dessen Unterstützer sabotierten. Reeves stellt das detailreich dar, setzt aber Vorwissen voraus: Nur wer weiß, wie Labour strukturiert ist, kommt ganz mit.

Um eine Sozialismus-Definition drückt sich Reeves Doku gänzlich. Immerhin reißt er die Frage, was eine Regierung Corbyn überhaupt hätte bewegen können, zum Schluss noch an. Jackie Walker ist sich sicher: Wäre Corbyn Premierminister geworden, hätte die herrschende Klasse ihn notfalls ermordet. Graham Bash kritisiert die Idee, Corbyn hätte trotz rechter Labour-Abgeordneter sozialistische Politik machen können, als „fundamentalen Irrtum“. Das könne nur mit einer „Verschwörung von unten“ funktionieren. Loach fordert, man müsse den Moment jetzt, wo man so zahlreich sei, nutzen.

Folgerichtig endet „Die große Lüge“ mit Bildern von Massendemos und Streiks in Britannien – vor allem von Aktionen im letzten Sommer.

Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge
Dokumentarfilm, Britannien 2022, 80 Min (EN mit Untertiteln)
Regie: Christopher Reeves
Platform Films

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"Schmutz, der kleben bleibt", UZ vom 6. Januar 2023



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