Zur NATO-Osterweiterung und Waffenlieferungen in die Ukraine

Schluss mit der Russophobie

Egon Krenz

Es ist Kalter Krieg mit der Gefahr eines heißen. Nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte geht das Bild vom bösen Russen um, der an allem schuld sei. Der Russischen Föderation wird wahrheitswidrig unterstellt, die Ukraine überfallen zu wollen. Dies, obwohl der russische Präsident mehrfach glaubhaft versichert hat, dass Russland keinen Krieg will. Dennoch sind deutsche Politiker und ihre Medien geradezu von einer Russophobie befallen, die bei der Bevölkerung zunehmend Kriegsangst schürt. Das nenne ich verantwortungslose Politik.

Es wird suggeriert, Russland gefährde plötzlich durch militärische Bewegungen auf eigenem Territorium den Weltfrieden. Was Russland wirklich will, ist, dass ausländische Truppen nie wieder so nahe seiner Grenzen stehen wie an jenem 22. Juni 1941, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. Es ist um seine eigene Sicherheit besorgt. Das hat Putin den Abgeordneten des Deutschen Bundestages in einwandfreiem Deutsch schon am 25. September 2001 gesagt. Und 2007 legte er auf der Münchener Sicherheitskonferenz nach: Die NATO-Erweiterung sei für Russland ein „provozierender Faktor“. Die USA und ihre NATO-Verbündeten haben das alles auf Gutsherrenart negiert. NATO-Truppen sind bekanntlich keine Friedensbringer. Es sind beispielsweise auch jene, die Kriege gegen Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder Libyen führten. Und dann ist da noch ein Wort von Henry Kissinger, der im Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem Maidan in Kiew einem Journalisten anvertraute, dass die Ukraine eine Generalprobe für das sei, was die USA in Moskau machen wollen, nämlich einen Regimewechsel.

Bekanntlich hätte es ohne die Zustimmung Moskaus und Gorbatschows Kompromiss, dass das einheitliche Deutschland Mitglied der NATO sein kann, keine deutsche Vereinigung gegeben. Gewissermaßen als „Dank“ für Moskaus großzügige politische Geste wird Russland systematisch betrogen: Die NATO-Grenze in Deutschland lag damals an der Elbe und der Werra. Heute an den Grenzen Russlands. So­wjetische Streitkräfte zogen aus Mitteleuropa ab, amerikanische, gar mit Atomwaffen, blieben als NATO-Streitkräfte. Nicht vergessen habe ich das öffentliche Versprechen des damaligen NATO-Generalsekretärs Wörner vom 17. Mai 1990: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Danach hätten selbst auf dem früheren Territorium der DDR keine NATO-Truppen stehen dürfen.

Was soll man angesichts der geschichtlichen Fakten von der aktuellen Zusage der NATO halten, ihre Türen stünden allen Staaten offen? Wahr ist, die Russische Föderation wollte in den neunziger Jahren der NATO beitreten. Das Verlangen wurde abgelehnt. Die NATO kann ohne Feindbild nicht leben. Und der Feind heißt Russland.

In 40 DDR-Jahren hat kein Soldat der Nationalen Volksarmee zu Kriegseinsätzen fremden Boden betreten. 30 Jahre später wird nun darüber diskutiert, ob Haubitzen aus NVA-Beständen an die Ukraine weitergegeben werden können. Das würde dem Geist der Vereinigung beider deutscher Staaten widersprechen, der von dem Grundsatz getragen war: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Die DDR hat 1989 die Gewaltlosigkeit der Ereignisse nicht garantiert, damit nun ihre Waffen gegen Russland eingesetzt werden könnten. Russland hat für seine Sicherheit bereits einen sehr hohen Preis bezahlt. Russen wurden schon einmal mit deutschen Waffen getötet. Dieser Mordbilanz darf nicht mehr auch nur ein einziger Mensch hinzugefügt werden. Darum keine Waffen – ob nun defensive oder offensive – in die Ukraine. Es muss Schluss sein mit der Russophobie, mit der Kriegsangst geschürt wird.

Egon Krenz war vom 18. Oktober bis zum 6. Dezember 1989 DDR-Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.

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"Schluss mit der Russophobie", UZ vom 4. Februar 2022



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