Programmatischer Aufbruch gefordert

Schluss mit der Küstenschifffahrt

Rolf Jüngermann, Gelsenkirchen

Es geht in unserer „China-Debatte“ meines Erachtens im Kern nicht um die VR China als solche, sondern um uns. Um unsere Politik. Um unsere Programmatik. Um unsere Strategie. Die Entwicklung der Volksrepublik kann und sollte in diesem Zusammenhang sicherlich als hochinteressanter und anregender Ideengeber verstanden und akzeptiert werden. Das könnte zum Beispiel auch bedeuten, nicht nur die Berichterstattung über China, sondern auch den direkten Meinungsaustausch mit chinesischen Genossen in unseren Presseorganen und in mündlicher Form weiter voranzubringen, so wie das zum Beispiel in den „Marxistischen Blättern“ und in der UZ schon hin und wieder geschehen ist. Ich bin sicher, die chinesischen Genossen sind da immer gerne mit von der Partie.

In Programmform fassen können wir aus der konkreten politischen Praxis der Volksrepublik so gut wie gar nichts – und das nicht nur, weil wir die Überwindung des Kapitalismus in unserem Lande ja überhaupt erst noch vor uns haben. In zweierlei Hinsicht allerdings kann sehr wohl von einer für uns geltenden Vorbildrolle der VR China gesprochen werden.

Da ist zum einen der Vergleich mit der weitgehend vernachlässigten programmatischen Arbeit in den westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten. Hier müssen wir feststellen, dass der letzte namhafte Anpassungsprozess an grundlegend veränderte politische Rahmenbedingungen, der sich mit den Namen Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti verbindet, im Westen mehr als 80 Jahre her ist. (Hans Heinz Holz hat die Entwicklung bis heute gewissenhaft und ausführlich dargestellt.) Die eigentlich selbstverständliche Aufgabe der revolutionären Kräfte in den hoch entwickelten Ländern, die inzwischen mehrere Jahrzehnte umfassenden chinesischen Erfahrungen auszuwerten und für die eigene revolutionäre Strategie fruchtbar zu machen, ist bisher noch nicht geleistet, ja weithin nicht einmal als Chance und als Aufgabe begriffen. Da hat die chinesische Geschichte einen ausgeprägten Aufforderungscharakter, Versäumtes endlich aufzuarbeiten.

Da ist zum anderen die Rolle der Ökonomie: „It’s the economy, stupid!“ Bevor wir keinen mit unseren potenziellen Bündnispartnern breit diskutierten und final ausgearbeiteten Strategieentwurf vorlegen können, der auf realistischen und glaubwürdigen Vorstellungen über ein erfolgreiches Funktionieren der Ökonomie beruht, werden wir für die meisten Menschen – und gerade auch für die Arbeiterklasse – keine ernst zu nehmende politische Alternative darstellen. Solange wir den Eindruck erwecken, als würden wir nicht nur festhalten an dem, was gut war nach 1917, sondern als könnten wir generell nicht loslassen, als könnten wir uns auch von gescheiterten Methoden und Denkweisen nicht wirklich lösen, so lange wird jede noch so gut gemeinte und gemachte Interessenvertretung, der „Kampf ums Teewasser“, schon bald an ihre Grenzen stoßen. „Nee, auf eine DDR 2.0 habe ich keinen Bock“, war nur die am schärfsten formulierte von den mehr oder weniger gleichen Reaktionen, denen ich bei meinen gelegentlichen Werbeversuchen für unsere Partei begegnet bin.

Die Lektionen aus der Niederlage des real existierenden Sozialismus haben die chinesischen Genossen seit Deng Xiaoping und seiner Crew – bisher erfolgreich – umzusetzen versucht. Natürlich ohne Netz und doppelten Boden – wie denn sonst? Und der politische Wagemut, verbunden mit wachsamer und selbstkritischer Vorsicht, mit dem sie zu Werke gegangen sind, könnte uns als Vorbild dienen, ähnlich wie den vietnamesischen und den kubanischen Genossen. In unserem Falle allerdings für längere Zeit beschränkt auf die Erarbeitung einer realistischen Programmatik für den Weg hin zu einem Sozialismus deutscher/europäischer Prägung. Bildhaft ausgedrückt könnte man formulieren: Es gilt Abschied zu nehmen von der programmatischen Küstenschifffahrt immer schön in Sichtweite des nächsten altbekannten und bewährten Leuchtturms zugunsten eines Aufbruchs in die eher unsicheren Gewässer des weiten Meeres da draußen. So wie die chinesischen Genossen es uns vorgemacht haben.

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"Schluss mit der Küstenschifffahrt", UZ vom 10. März 2023



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