Risse in der EU verhindern Weltmachtkonkurrenz zu den USA

Schlechte Nachrichten aus Brüssel

„In Vielfalt geeint“: So lautet der Wahlspruch, den sich die EU im Jahr 2000 offiziell gegeben hat. Auf der Website der Union kann man ihn in all ihren Amtssprachen finden – von Irisch bis Bulgarisch, von Estnisch bis Portugiesisch. An Vielfalt, an Vielstimmigkeit mangelt es der EU gewiss nicht. Von Einigkeit allerdings ist immer weniger zu spüren. Die Risse, die sich durch sie ziehen und die längst nicht mehr bloß einzelne Mitgliedstaaten, sondern auch ganze Regionen voneinander trennen, werden immer zahlreicher, immer tiefer.

Da wären zunächst die tiefen Risse in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Nicht grundlos erklärten die Regierungen beider Länder im Aachener Vertrag vom 22. Januar 2019, es sei „an der Zeit, ihre bilateralen Beziehungen auf eine neue Stufe zu heben“: Sie seien fest davon überzeugt, erläuterten sie, „dass die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich für eine geeinte, leistungsfähige, souveräne und starke Europäische Union entscheidend gewesen ist und ein unverzichtbares Element bleibt“. Und es stimmt ja auch: Ziehen die stärkste und die zweitstärkste Macht der EU nicht an einem Strang, dann entstehen Reibungsverluste – und das schwächt das europäische Staatenkartell in der globalen Konkurrenz. Entsprechend sah der Aachener Vertrag allerlei Maßnahmen vor, die die deutsch-französische Kooperation intensivieren sollten, darunter nicht zuletzt die Vertiefung der „Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit“.

Deutsch-französische Uneinigkeit

Die Zwischenbilanz, die sich heute ziehen lässt, ist für Berlin und Paris ein Desaster. Eine vertiefte Zusammenarbeit in der Außenpolitik? Anfang 2023 reisten die Außenministerinnen Annalena Baer-bock und Catherine Colonna gemeinsam nach Äthiopien, um durch ein Auftreten Seite an Seite stolz die angebliche Einigkeit der beiden EU-Führungsmächte zu demonstrieren. Schon im Herbst 2023 scheiterte allerdings ein ähnliches Vorhaben komplett. Nach dem jüngsten Krieg um Bergkarabach flog Colonna Anfang Oktober 2023 nach Eriwan, um dort nach Kräften Unterstützung für Frankreichs traditionellen Verbündeten Armenien zu organisieren. Sie lud Baerbock ein, sie quasi in einer zweiten Demonstration vermeintlicher Geschlossenheit zu begleiten – ohne Erfolg: Baerbock, Deutschlands Interesse an Erdgas aus Aserbaidschan Vorrang gebend, schlug die Einladung brüsk aus und machte sich ihrerseits Anfang November auf den Weg, erst nach Eriwan und dann nach Baku – nicht, um Armenien beizustehen, sondern um zwischen ihm und dem Erdgaslieferanten Aserbaidschan zu vermitteln. Nationale Interessen haben eben Vorrang, in Berlin wie in Paris.

Ähnlich ist die Lage bei Rüstung und Militär. Mit großem Pomp hatten Deutschland und Frankreich im Juli 2017 ehrgeizige Rüstungsprojekte beschlossen, um eigene Alternativen zu US-Waffensystemen zu schaffen. Heute schleppen sich die gemeinsamen Arbeiten an einem Kampfjet der modernsten Generation (Future Combat Air System, FCAS) und an einem High-Tech-Kampfpanzer (Main Ground Combat System, MGCS) mit großer Verzögerung dahin. Der Grund: Die beteiligten deutschen beziehungsweise französischen Rüstungskonzerne hemmen sich im eifersüchtigen Gerangel um industrielle Vorteile gegenseitig. Pläne für den Bau eines deutsch-französischen Seefernaufklärers und die Modernisierung des deutsch-französischen Kampfhubschraubers Tiger sind bereits geplatzt; Berlin beschafft stattdessen, zum großen Ärger in Paris, US-Maschinen und erwirbt zudem US-Kampfjets F-35. Dassault arbeitet für den Fall der Fälle bereits an einem eigenen nationalen Kampfjet, der das FCAS ersetzen könnte; Rheinmetall entwickelt in einem Alleingang neue Kampfpanzer. Auch die praktische Militärkooperation stockt: Aufgrund tiefgreifender Differenzen zwischen Berlin und Paris wurden etwa die EU-Battlegroups, die seit 2007 voll operationsfähig sind, noch nie eingesetzt.

Die Ampelkoalition in Berlin hat die Risse in den deutsch-französischen Beziehungen noch vertieft. Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. August 2022 an der Prager Karls-Universität seine breit gepriesene „Europa-Rede“ hielt, da vermisste man in Paris vor allem eines: einen wenigstens vorsichtigen Hinweis auf die deutsch-französische Kooperation. Scholz kündigte stattdessen an, „Deutschland als Land in der Mitte des Kontinents“ werde „alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen“. Was das im wirklichen Leben bedeutete, das zeigte die European Sky Shield Initiative (ESSI), die sich Mitte Oktober 2022 unter deutscher Führung zusammentat, um über Europa eine umfassende Flugabwehr zu spannen. Zu den wenigen Staaten, bei denen der Kanzler nicht vorab um ihre Beteiligung geworben hatte, zählte Frankreich. Die ESSI nutzt denn auch Flugabwehrsysteme deutscher, US-amerikanischer sowie israelischer Hersteller, grenzt aber ein französisch-italienisches, also europäisches Abwehrsystem aus. „Die deutsch-französische Freundschaft“, konstatierte Wirtschaftsminister Robert Habeck im September, sei „in Wahrheit … eine Polarität“, „die man so deuten muss, dass wir uns in nichts einig sind“.

Austerität und Staatsräson

Zu den Rissen in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich kommen alte, unverändert fortbestehende Brüche zwischen der Bundesrepublik und diversen Ländern im Süden der EU hinzu. Sie treten regelmäßig zutage, wenn der Umgang mit Staatsschulden und eine etwaige Kürzung staatlicher Ausgaben zur Debatte stehen – und das ist bei den relativ stark verschuldeten südlichen EU-Staaten immer wieder der Fall. Ende Dezember, kurz nach dem Tod von Wolfgang Schäuble, erinnerte der frühere griechische Finanzminister Yanis Varou-fakis daran, wie im Sommer 2015 sein damaliger deutscher Amtskollege dem krisengeschüttelten Griechenland ein beinhartes Austeritätsdiktat oktroyierte. Der Widerstand dagegen war in Athen zwar vergeblich, aber immens. Erst im Dezember wurde der Konflikt um staatliche Schulden erneut virulent, als die EU sich um eine Reform ihres Stabilitäts- und Wachstumspakts bemühte. Einmal mehr konnte Berlin durchsetzen, dass verschuldete Länder stärker sparen müssen als es vor allem die Staaten Südeuropas wünschen, darunter insbesondere Italien, aber auch Frankreich. Der Rotstift, den sie künftig ansetzen müssen, um einen harten Konflikt mit der EU-Kommission zu vermeiden, wird ihre Bevölkerung schmerzen; er wurde vor allem in Berlin konzipiert.

Ernste Brüche zwischen der Bundesregierung und mehreren Regierungen Südeuropas zeigen sich aktuell auch in der Außenpolitik, und zwar mit Blick auf das Kriegsgeschehen im Nahen und Mittleren Osten. Während Berlin die israelische Kriegführung nahezu bedingungslos verteidigt, sich dabei hinter Formeln wie der vom „Recht auf Selbstverteidigung“ verschanzt und dabei noch härtere Positionen als die Biden-Regierung vertritt, gehen etwa Spanien oder Frankreich zunehmend zu Deutschland auf Distanz. Bereits Mitte November hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen verlangt sowie sich mit der auf die israelischen Luftangriffe gemünzten Äußerung, es gebe „keine Rechtfertigung dafür, Zivilisten anzugreifen“, nicht zuletzt in offenen Widerspruch zur Bundesrepublik begeben. Ähnlich hatte sich auch Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez positioniert und unter anderem „ernsthafte Zweifel“ geäußert, dass die israelischen Militärs „das humanitäre Völkerrecht einhalten“. Zuletzt weigerte Spanien sich, Kriegsschiffe für den US-geführten Marineeinsatz gegen die Huthis bereitzustellen oder die Schiffe der EU-Operation Atalanta vom Horn von Afrika ins Rote Meer zu beordern. Auch damit stellte sich Madrid klar gegen Berlin, das einen EU-Militäreinsatz zum Schutz der Handelsschiffe vor der Küste des Jemen wünscht.

Konfliktpotential Russlandpolitik

Tiefe Risse in den deutsch-französischen Beziehungen, harte Brüche im Verhältnis zwischen Deutschland und Südeuropa – und dann wären da noch gravierende Differenzen zwischen der Bundesrepublik und zahlreichen Staaten Ost- und Südosteuropas. Seit Jahren, zugespitzt seit dem 24. Februar 2022, zeigen sie sich insbesondere in der Russlandpolitik. Polen und die baltischen Staaten, Tschechien, in gewissem Umfang auch Rumänien drängten schon vor dem Ukraine-Krieg stets auf ein hart konfrontatives Vorgehen gegen Moskau, während Deutschland in ökonomischen Belangen, vor allem in puncto Energie, um ein gewisses Maß an Kooperation bemüht war; man denke an die von Polen und den baltischen Staaten erbittert bekämpfte, von der Bundesrepublik aber dennoch durchgesetzte Erdgaspipeline Nord Stream 2. Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs kann es den Regierungen von Warschau bis Tallinn mit der Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte gar nicht schnell und heftig genug gehen, während die Bundesregierung bei manchen Eskalationsschritten eher ein wenig zögert, etwa bei der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. In solchen Fällen treiben Polen und die baltischen Staaten Deutschland immer wieder vor sich her.

Dabei werden die Differenzen zwischen Deutschland beziehungsweise Westeuropa auf der einen, Ost- und Südosteuropa auf der anderen Seite schon seit Jahren strukturell unterfüttert – und zwar von der Drei-Meere-Initiative, die offiziell im Jahr 2015 von Polen und Kroatien lanciert wurde. Den wohl wichtigsten Anstoß zu ihr hatte ein Strategiepapier gegeben, das der Washingtoner Atlantic Council im November 2014 publiziert und in dem er die Schaffung eines Nord-Süd-Korridors „von der Ostsee zur Adria und zum Schwarzen Meer“ vorgeschlagen hatte. Faktisch ging es dabei – vor dem Hintergrund des in den Jahren 2013 und 2014 eskalierten Ukraine-Konflikts – um die Bildung eines breiten Staatengürtels zur Abwehr russischen Einflusses, wie ihn bereits zwischen den Weltkriegen Polens Staatsgründer Józef Pilsudski im Machtkampf gegen die Sowjetunion propagiert hatte; Pilsudskis Schlagwort dafür lautete „Intermarium“. Die Drei-Meere-Initiative, der zwölf Staaten von Estland über Tschechien bis Bulgarien angehören, wird von den USA seit je in ihrer antirussischen Positionierung unterstützt – und nicht nur das: Washington sucht sie zudem als Einflusshebel innerhalb der EU zu nutzen.

Allerdings verfängt das Ansinnen nicht bei allen an der Drei-Meere-Initiative beteiligten Staaten. Ungarn entzieht sich ihm weitgehend – und es geht mit seiner Russlandpolitik, die auf die Fortsetzung eines gewissen Maßes an Kooperation mit Moskau und auf eine rasche Beendigung des Ukraine-Krieges setzt, auf Konfrontationskurs nicht nur zu den meisten Ländern Ost- und Südosteuropas, sondern auch zu nahezu allen anderen Staaten der EU. Zu welchem Streit das führen kann, konnte man Mitte Dezember sehen, als Ministerpräsident Viktor Orbán nur in Abwesenheit die Aufnahme der EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine tolerierte – er verließ vor der Abstimmung den Raum –, anschließend aber die Zusage von EU-Mitteln in Höhe von 50 Milliarden Euro für Kiew kühl blockierte. Auch die Slowakei beginnt sich unter ihrem neuen Ministerpräsidenten Robert Fico von der hart antirussischen Strategie der EU zu distanzieren; sie liefert keine Waffen mehr an die Ukraine und äußert zunehmend Kritik an den Russland-Sanktionen. Damit wächst das Konfliktpotenzial innerhalb der EU ein weiteres Stück.

Orbán verfolgt darüber hinaus eine Politik, die nicht mehr nur auf einzelnen Themenfeldern mit den Positionen Berlins und Brüssels kollidiert, sondern die sogar auf einen umfassenden Umbau der EU in Richtung auf ein „Europa der Nationen“ zielt. „Mein Plan ist es nicht“, äußerte er Ende 2023 im Gespräch mit dem ungarischen Nachrichtenmagazin Mandiner, die EU „zu verlassen, sondern Brüssel zu übernehmen“. Wahlsiege wie etwa diejenigen von Giorgia Meloni in Italien oder von Geert Wilders in den Niederlanden sind Wasser auf seine Mühlen. Dass er einen Ableger des US-republikanischen Trump-Fanclubs CPAC (Conservative Political Action Conference) nach Ungarn geholt und bei der Amtseinführung von Argentiniens neuem Präsidenten Javier Milei Kontakte geknüpft hat, spricht Bände; da zeichnen sich weitere massive Konflikte mit dem EU-Establishment ab.

Für die Herrschenden in Deutschland, die in der EU Geschlossenheit wünschen, um mit dem Staatenkartell dereinst als Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA operieren zu können, sind all die Risse, Brüche und Differenzen in der Union eine schlechte Nachricht. Natürlich trägt die Zerstrittenheit der Union auch nicht gerade dazu bei, die Lage der Bevölkerung zu verbessern. Nur ein Beispiel: Laut den offiziellen Angaben von Eurostat nahm der Anteil der Menschen, die von Armut oder von armutsbedingter sozialer Ausgrenzung bedroht sind, zuletzt erneut zu und stieg von seinem Tiefstand des Jahres 2019 (21,1 Prozent) bis zum Jahr 2022 wieder auf 21,6 Prozent. Mäße man die EU an den Maßstäben, mit denen sie öffentlich wirbt, wäre das ein desolates Zeugnis. Aber darum geht es allenfalls in zweiter Linie. Die Konflikte innerhalb des Staatenkartells hemmen seinen globalen Aufstieg; das ist der Grund, weshalb Berlin darauf dringt, die EU solle endlich sein, was sie zu sein vorgibt – nämlich „in Vielfalt geeint“. Angesichts der widerstreitenden nationalen Interessen spricht freilich alles dafür, dass dies das bleibt, was es ist: ein frommer Wunsch.

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"Schlechte Nachrichten aus Brüssel", UZ vom 12. Januar 2024



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