In einem Punkt hatte Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, absolut recht, als er sich in der vergangenen Woche auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Wort meldete. Alle, die in Führungspositionen mit Außen- und Sicherheitspolitik befasst seien, behaupteten gerne, ihre Amtszeit sei „die komplexeste und schwierigste in der jüngeren Vergangenheit“, stellte er fest. Heute aber treffe diese Aussage tatsächlich zu. Die Welt, fuhr Sullivan fort, befinde sich in einer Phase, in der Großmächte einen „harten Wettbewerb“ austrügen „um die Art der Welt, die wir schaffen wollen“. Zugleich seien diese Mächte „erheblich mehr voneinander abhängig als zu jeder Zeit im Kalten Krieg“. Man erlebe nun also einen „strategischen Wettbewerb in einer Ära wechselseitiger Abhängigkeit“. Dieser aber führe zu „disruptiven“, zu plötzlichen, zerstörerischen Veränderungen.
Kein Wunder also, dass die Außen- und Militärpolitik die Elitenrunden in Davos, zu denen sich mehr als 60 Staats- und Regierungschefs eingefunden hatten, stärker prägte denn je. Die Debatte über die Kriege und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten nahm viel Raum ein, und es kristallisierte sich sogar eine Art Konsens heraus – nämlich der, dass, je länger die Konflikte schwelten, desto mehr die Gefahren für „Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region“ zunähmen, wie es Jordaniens Premierminister Bisher al Khasawneh formulierte. Der Ukraine-Krieg wurde ebenfalls breit thematisiert, genauer: die westliche Sichtweise auf ihn, denn Russland war in Davos nicht vertreten. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenski forderte, der Krieg müsse noch in diesem Jahr entschieden werden, und er warb auf einem Treffen am Vorabend des Weltwirtschaftsforums einmal mehr für seine „Friedensformel“, die nichts anderes als eine russische Kapitulationserklärung ist. Bleibt er dabei, dann wird der Ukraine-Krieg allein auf dem Schlachtfeld entschieden.
Dass die Konflikte und Kriege auch die wirtschaftliche Entwicklung belasten, das bestätigte in Davos die Mehrheit der rund 60 Chefökonomen aus Konzernen, staatlichen Stellen und internationalen Organisationen, die wie üblich zu ihrer Einschätzung der aktuellen Weltlage befragt wurden. Weil sich Blöcke formierten – jedenfalls im Westen –, sei mit zunehmender lokaler Wertschöpfung, sprich: mit einer Rückverlagerung der Lieferketten in den eigenen Block zu rechnen, prognostizierte ebenfalls eine Mehrheit, und: Man könne davon ausgehen, dass die Spannungen zwischen reichen und armen Ländern, sprich: zwischen dem Westen und dem Globalen Süden, weiter zunähmen. Immerhin könne die Welt noch mit einem insgesamt moderaten Wirtschaftswachstum rechnen. Eine Ausnahme bildet nur Europa; dem Kontinent sagten gut drei Viertel der Chefökonomen ein „schwaches oder sehr schwaches“ Wachstum voraus.
„Hat Europa ein Problem?“ So lautete die ehrliche Eingangsfrage des Panels, auf dem Wirtschaftsminister Robert Habeck sprechen durfte; sein Auftritt fand nicht in der großen Kongresshalle, sondern in einem der kleinen Veranstaltungsräume statt. Habeck schwurbelte etwas davon, Europa sei bekanntlich gerade in Krisen stark, konnte damit aber niemanden überzeugen. „Europa hinkt hinterher“, konstatierte der neben ihm sitzende Konzernchef der spanischen Telefónica, während die Chefin des Pharmakonzerns Merck „Europa“ trocken „Selbstgefälligkeit“ attestierte. Beobachter bemerkten, dass auf Podien, auf denen in Davos über Künstliche Intelligenz diskutiert wurde – ein zentrales Zukunftsthema –, kaum Deutsche oder andere Europäer vertreten waren. Wer sich in Davos für „Europa“ energisch ins Zeug warf, das war Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Der „alte Kontinent“ müsse wirtschaftlich viel schneller Fortschritte machen, dürfe zugleich aber „nicht zu abhängig von den Vereinigten Staaten“ werden, forderte er – und räumte gleichzeitig ein, ein „souveränes Europa“ aufzubauen, das werde wohl noch Jahrzehnte dauern. Nun, so viel Zeit hat man in einer Ära „disruptiver“ globaler Umbrüche kaum.