Der Polizeimord an dem 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund (UZ vom 19. August) hat viele grundsätzliche Fragen aufgeworfen, darunter die, wie Polizisten und Sozialpädagogen mit psychisch erkrankten Geflüchteten umgehen sollten. Mustafa Kapti flüchtete als Kind aus der Türkei nach Deutschland. Eine Erfahrung, die dem Stuttgarter Sozialarbeiter heute bei seiner Arbeit hilft. UZ sprach mit ihm über die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, deren Probleme und den Umgang mit psychisch erkrankten Jugendlichen.
UZ: Welche Erfahrungen hast du im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gemacht?
Mustafa Kapti: 2015, als viele nach Deutschland kamen, wurden wir jeden Abend von der Polizei mit Jugendlichen „versorgt“. Die sprachen kein Wort Deutsch, waren orientierungslos, ohne Familie, ohne Eltern – traumatisierte Jugendliche, die aber sehr kooperativ gegenüber uns Mitarbeitern waren. Natürlich hatten viele ihre eigenen Probleme. Es kam immer wieder zu Konflikten. Aber die konnten wir intern gut klären und die jungen Menschen auffangen.
UZ: Mit welchen Problemen kommen diese Menschen hierher?
Mustafa Kapti: Erstens ist es ein fremdes Land. Zweitens konnte keiner ein Wort Deutsch. Drittens kommen sie ohne Eltern. Als sie hier ankamen, schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Aber da haben die Probleme erst angefangen. Sie haben schnell gemerkt, wie einsam sie hier sind und wie rigide die Strukturen. In der Jugendhilfe ist es so, wenn du unter 18 bist, musst du zu einer gewissen Uhrzeit in der Einrichtung sein. In ihren Herkunftsländern hatten sie diese Kontrolle zum Teil nicht. Bis 20 Uhr gibt es Essen, wenn du zu spät bist, hast du Pech gehabt. Ihre Vorstellung von Deutschland war ganz anders als die Realität, die sie hier vorgefunden haben.
Dazu kommen Kriegstraumata. Ich erinnere mich an einen Silvesterabend mit jungen Menschen, die zum ersten Mal in Deutschland waren. Als das Feuerwerk losging, haben sie die Rollläden heruntergelassen und sich unter den Betten verkrochen. Das war ein trauriges Erlebnis für mich und meine Kollegen.
Oder die Fluchterfahrung derjenigen, die über Nordafrika nach Europa gekommen sind. Diesen Menschen merkt man an, dass sie von Schlepperbanden missbraucht und misshandelt wurden.
UZ: Du bist selbst als Geflüchteter nach Deutschland gekommen.
Mustafa Kapti: Da war ich acht, fast neun Jahre alt. 1990 war das. Mein Vater war ein Jahr früher geflohen. Ich komme aus dem Südosten der Türkei, aus der Gegend Maraş, wo damals Bürgerkrieg herrschte. Wir sind mittels Schleusern nach Deutschland gekommen. Es hat dann drei Jahre gedauert, bis wir unsere Aufenthaltserlaubnis bekommen haben.
UZ: Wie war das für dich, in Deutschland anzukommen?
Mustafa Kapti: Ich kam mit unangenehmen Fluchterfahrungen in ein fremdes Land. Bis heute habe ich zum Beispiel Schiss vor uniformierten Menschen – selbst vor Mitarbeitern der Deutschen Bahn. Weil ich als Kind in der Türkei tagtäglich Soldaten gesehen habe.
Das Schlimmste war, kein Deutsch zu können. Man schickt dich in eine Förderklasse, dann irgendwann auf die Hauptschule – selbst, wenn du begabt bist. Ich habe Abitur gemacht und studiert und erst im Nachhinein gemerkt, welche Bildungslücken man hat, nur weil man nicht gut genug Deutsch spricht.
UZ: Hattest du so etwas wie ein Schlüsselerlebnis, nachdem du dich dann eher zuhause gefühlt hast?
Mustafa Kapti: Ich frage mich immer noch tagtäglich, ob ich hier zu Hause bin oder nicht. Mit Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund verstehe ich mich besser als mit manchen deutschen Mitbürgern. Bei Letzteren sehe ich immer wieder, dass selbst solche, die sich modern, offen und tolerant geben, gedanklich der Vergangenheit verhaftet sind. Leider.
Wenn ich in der Arbeit angerufen werde, nenne ich nur meinen Nachnamen. Weil ich schlechte Erfahrungen gemacht habe mit der Nennung meines Vornames. Kapti hört sich irgendwie international an. Kleinigkeiten, aber wenn die alltäglich sind, prägen sie einen doch. Deshalb habe ich mich nach dem Studium entschieden, mit Geflüchteten zu arbeiten. Ich verstehe, wie das ist, wenn man die Sprache nicht spricht, und wollte etwas zurückgeben. So bin ich in der Inobhutnahme für unbegleitete minderjährige Geflüchtete gelandet.
UZ: Danach hast du in einer Wohngruppe gearbeitet und dort auch psychische Ausbrüche junger Menschen erlebt. Kann man als Betreuer einer Jugendhilfeeinrichtung oder als Polizist erkennen, wenn Minderjährige psychische Probleme haben?
Mustafa Kapti: Die Arbeitsweise von Jugendämtern steht dem eher im Weg. Dort heißt es, man solle keine Beziehung zu den Jugendlichen aufbauen – obwohl die Jugendlichen zum Teil sechs, sieben Monate bei uns geblieben sind. Mit Distanz ist es natürlich schwieriger, entsprechende Signale wahrzunehmen. Bei sichtbar selbstverletzendem Verhalten behaupteten teilweise Kollegen, so etwas sei beispielsweise in der afghanischen Kultur normal. Für mich war das hingegen immer ein Zeichen.
Jugendliche suchen Nähe zu Betreuern, wenn ihnen die Familie fehlt. Wenn du diese Menschen nicht auffangen kannst, dann platzen sie irgendwann. Das sind schließlich ganz normale junge Menschen mit Emotionen, in einer Jugendeinrichtung, die wenig Freiheit bietet. Je mehr Kontakt du zu den jungen Menschen hast, je mehr Vertrauen da ist, desto eher erzählen sie ihre Lebensgeschichte.
UZ: Hast du Tipps für den Umgang mit psychisch erkrankten Jugendlichen?
Mustafa Kapti: Eine Zauberformel habe ich nicht. Mein Vorteil ist, dass ich selber als Flüchtling nach Deutschland gekommen bin. Dass ich nicht Johannes, sondern Mustafa heiße. Das klingt für viele ein bisschen vertrauter. Damit ist auch ein wenig Respekt verbunden. Wenn du diesen Menschen Respekt entgegenbringst, bekommst du den auch zurück. Dann hast du mehr Handhabe, mit ihnen auf Augenhöhe zu arbeiten. Und kannst jemanden motivieren, zu einer psychologischen Beratungsstelle zu gehen, weil du ihm erklären kannst, dass das nicht bedeutet, verrückt zu sein.
UZ: Wie hätten die Polizisten in Dortmund denn richtig reagieren können, wenn sie auf einem abgeriegelten Innenhof einen 16-Jährigen sehen, der sich ein Messer an den Bauch hält?
Mustafa Kapti: Die Mitarbeiter dort kennen diesen Jugendlichen, die Polizei nicht. Da hätte ich erst mal einen Betreuer dazu geholt. Dann unbedingt deeskalierend auftreten und Distanz wahren. Stell dir vor, du bist traumatisiert und plötzlich kommen sechs Polizisten in voller Montur mit Maschinenpistolen auf dich zu. Was haben die erwartet?
Wir hatten mal einen Vorfall mit zwei Jugendlichen. Da kamen vier Polizisten in voller Montur, mit Tränengas, Hund und so weiter. Obwohl nicht viel los war. Ich war schockiert. Das ist schließlich eine Jugendschutzeinrichtung. Solange niemand krankenhausreif geprügelt wird, haben die dort nichts verloren. Der Polizei war das egal. Die kam trotzdem rein und hat die Jugendlichen angeschrien. Warum schreien Sie plötzlich los, habe ich die Polizisten gefragt. Reden Sie ganz normal. Polizisten scheinen nicht gelernt zu haben, wie man deeskalierend reagiert.
UZ: Hast du eine Vermutung, woran das liegt?
Mustafa Kapti: Die sind überfordert. Sind ja auch nur Menschen. Dazu kommen aber zum Teil Vorurteile in ihren Köpfen. Ich bin der festen Überzeugung, dass in unseren Polizeibehörden rassistische Strukturen herrschen. Nimm das Beispiel in Berlin – wenn man jemanden anbrüllt, das sei mein Land, du bist Gast, hau ab, wenn es dir nicht passt – das ist völlig offensichtlicher Rassismus.