Unter Dichtern und solchen, die Enzensberger dafür hält

Schillernd unscharf

Von Rüdiger Bernhardt

Hans-Magnus Enzensberger

Überlebenskünstler

99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert

Berlin, Suhrkamp-Verlag 2018

367 Seiten, 24, – Euro

Hans-Magnus Enzensberger war eine Institution der öffentlichen Diskussion, anregend, provozierend und wechselhaft. Mit diesem Buch möchte der 88-jährige literarische Beispiele vermitteln, die für ihn „Überlebenskampf“ repräsentieren. Mancher der Texte kommt aus früherer Zeit, manches wohl aus Wikipedia. Möglicherweise wollte Enzensberger auf den äußerst spekulativen, schillernden amerikanischen Literaturwissenschaftlers Harold Bloom reagieren, der behauptete, dass seit Beginn des 21. Jahrhunderts keine Literatur mehr hervorgebracht werde. Sein Abgesang war „Genius. Die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur“ (dt. 2004). Enzensbergers Beispiele stammen aus dem 20. Jahrhundert, es sind 99 an der Zahl. Der Hundertste möchte Enzensberger wohl selbst sein. Es sind Zeitgenossen des 1929 Geborenen, von Knut Hamsun (1859–1952) bis zu dem noch lebenden Ismail Kadare (geb. 1936).

Man erwartet bei der Vielzahl von Haltungen, die Enzensberger eingenommen hat, eine Darstellung seiner Erfahrung und in der Auswahl der Namen ein Bekenntnis zu gültiger Literatur, die aus dem Kampf gegen Bedrohungen aller Art hervorgegangen ist. Im Vorwort deutet Enzensberger Verluste an; entstanden im Angesicht der Gefahren, vor allem der des europäischen Faschismus, viele Autoren nahmen sich das Leben.

Enzensbergers Auswahl ist eine angreifbare Auswahl mit oft fragwürdigen Wertungen. Der von ihm ins Vergessen geschickte Bernhard Kellermann (19) erfreut sich einer beständigen Leserschaft. Die Autoren wurden „passend“ gemacht, Lebensläufe aufgelöst, um die geeigneten Abläufe zu erhalten: Gerhart Hauptmanns Leben scheint fast gelaufen zu sein, seine literarischen Ambitionen durch „wunderliche“ Romane gescheitert, ehe er „erst als Dramatiker“ „seine Klaue“ gezeigt habe. Dabei hatte er als Dramatiker begonnen. Nebenbei wird der Naturalismus, eine gestalterische Methode und eine Weltanschauung von internationaler Bedeutung, als „Etikett“ abgetan. Klitterungen wie bei Ricarda Huch, die habe es in der „sowjetischen Zone … nicht lange ausgehalten“ (31), dabei war ihr Umzug von Jena nach Frankfurt a. M. ausschließlich eine Frage, bei der Verwandtschaft Hilfe zu finden, und Karl Corinos „Demontage“ Hermlins, die über wenig Substanz verfügte, gehören zu Enzensbergers Methode. Sie arbeitet mit radikalen Vereinfachungen, die zu falschen Schlussfolgerungen führen: Heiner Müller sei „der einzige Schüler, der sich von Brechts Übermacht … befreit“ habe. Peter Hacks, der als Antipode von Müller ebenfalls einen solchen Platz beanspruchte, wird nicht und Volker Braun, neben Müller der genialste Schüler Brechts, wird einmal beiläufig erwähnt. Kein Autor sei in einem KZ „ums Leben gebracht worden“ (16), ein unverzeihlicher Missgriff. Erich Mühsam ist eines der Gegenbeispiele, Robert Desnos, Anne Frank, Georg Hermann, Adam Kuckhoff ebenfalls, die Liste ist lang.

Schlimm ergeht es Johannes R. Becher, der „gern ein Dichter geworden (sei), doch das hat nie richtig geklappt“. Immerhin sei er als „ein Minister, der so viel liest“ eine Ausnahme. Enzensberger weiß von Bechers Kollegen Alexander Abusch, Klaus Gysi und anderen nichts. Der Schreiber kennt wohl Bechers Gedichte zu wenig und seine Essayistik gar nicht. Selbst Bechers Anthologie „Tränen des Vaterlandes“, an der nichts zu mäkeln ist, muss sich ironisierende Überheblichkeit gefallen lassen: „In seinem Vorwort musste er natürlich ein bisschen Gorki und ein bisschen Lenin zitieren, aber das macht nichts.“ Als wären Gorki und Lenin nicht verwendbar, dazu dumm. Allerdings geht seine Gorki-Vignette von ähnlichen Dummheiten aus, „Zwangsarbeit hielt er für eine Errungenschaft“ (37).

Durch Zuspitzung und Verknappung fallen die Fehler auf: Der zum Materiallieferanten für Heiner Müller degradierte Erik Neutsch (343) heißt hier Erich; Gerhart Hauptmann zog sich im Sommer nicht „in ein Kloster auf der Insel Hiddensee zurück“ (24), sondern er lebte in seinem Sommerhaus Seedorn im Ort Kloster auf Hiddensee. Gorkis „Die Mutter“ war kein Theaterstück (36), das „nicht totzukriegen“ ist – das wurde der Roman erst 1932 durch Brecht –, dafür 1907 ein herausragender Roman. Die Verfilmung kam erst 1926. Brecht hat keineswegs alle Schüler „plattgedrückt“; seine Lehrstücke versteht Enzensberger nicht („Zeigefinger wie ein Schulmeister“). Selbst der Inhalt vom „Siebten Kreuz“ der Anna Seghers wird falsch wiedergegeben und Pablo Neruda wird wegen „hemmungsloser Parteilyrik“ als „politisch nicht ganz zurechnungsfähig“ erklärt, über seinen adäquaten Übersetzer Erich Arendt fällt kein Wort, dafür werden Kübel ironischer Brühe über Neruda ausgegossen. Der Geburtsort Heiner Müllers ist „Eppendorf“ und nicht „irgendwo“ und schreiben durfte er immer, nicht „auf einmal“, und mehr solcher Fehler.

Nicht aufgenommen hat Enzensberger Meister der Überlebenskunst wie Heinrich und Thomas Mann, Hermann Hesse, Günter Grass, Christa Wolf und Hermann Kant, Majakowski, Zola und viele andere. Dafür Alexander von Gleichen-Rußwurm, Thomas Edward Lawrence („Lawrence von Arabien“) und viele Unbekannte, die auch durch die Nennung hier nicht bekannter werden, dazu aber auch mehrere richtige Faschisten wie Céline, den Barden Hans Baumann („Es zittern die morschen Knochen“), Curzio Malaparte und andere; Ohrfeigen für die Vernachlässigten. Fallada wird in den dreißiger Jahren auf „harmlose Themen“ reduziert; sein „Eiserner Gustav“ (1938) nicht erwähnt.

Diese Literaturwelt ist einseitig, mit Büchern, die nicht oder nur teils gelesen wurden. Was heute noch marxistisch erscheint, ist ihm mindestens verdächtig, oft auch Gegenstand von Ironie und Hohn. Solche Autoren verschwanden in Enzensbergers Literaturgeschichte oder werden nur beiläufig erwähnt, die zum sozialen Gewissen revolutionärer Veränderungen wurden: So fehlen Scholochow und Heinrich Böll und andere sozialkritische und linke Autoren.

Das Buch ist salopp geschrieben, gut lesbar und in Zuspitzungen manchmal anregend, manchmal auch abstoßend (so bezeichnet er Anna Seghers nach Hans Sahl als „Therese von Konnersreuth der KP“). Dem Buch kann man zwei Absichten unterstellen. Es könnte einmal eine Art Vermächtnis sein, der Nachwelt bedeutende Autoren anzubieten, wie Enzensberger sie versteht. Oder aber, es ist der Ausweis der eigenen literarischen Wertvorstellungen. Die erste Absicht scheidet im Angesicht der heterogenen Auswahl aus, die zweite Absicht lässt das Bild des kämpferischen sozial engagierten Dichters schillernd und unscharf werden. Man sieht sich enttäuscht. Aufgefordert, so von Peter Weiss, sich einmal zu entscheiden, lehnte Enzensberger ab. Er wechselte die Positionen schneller als mancher das Hemd. Ein Ergebnis davon hat man nun vor Augen.

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"Schillernd unscharf", UZ vom 1. Juni 2018



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