Deutsches Staatsschiff von Ignoranz gekapert

Scheuklappen gegen Realismus

Kolumne

Emmanuel Todd, einer der bekanntesten Historiker Frankreichs, hat der „Berliner Zeitung“ ein Interview gegeben, in dem er den Wertewesten als im freien Fall und das deutsche Segment darin als in unseliger amerikanischer Fesselung beschreibt. Er wirft einen realistischen Blick auf den Ukraine-Krieg und erkennt in dessen Vorgeschichte das provokatorische Kalkül des Westens. Vor dem Februar 2022 habe sich die NATO nach Osten ausgedehnt. Beim Maidan sei es zu einer direkten Intervention der US-Amerikaner gekommen. Am Ende habe der Westen begonnen, die ukrainische Armee bis an Russlands Grenzen aufzurüsten, obwohl Moskau klar gemacht hatte, dass es eine in die NATO integrierte Ukraine nicht tolerieren könnte. Wenn er nun sage, die Ukraine haben den Krieg bereits verloren, spreche er nur aus, was das Pentagon oder der französische Generalstab denken.

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Hartmut König

Todd hält Deutschland, auf das die antirussische Sanktionspolitik des Westens krass zurückschlägt, für einen „entscheidenden Akteur“ im Ukraine-Krieg. Anfang der 2000er Jahre habe es eine Annäherung zwischen Europa und Deutschland mit Russland gegeben. Dass Schröder, Putin und Chirac gemeinsam eine Front gegen den Irak-Krieg bildeten, habe die US-Amerikaner in ihrer Furcht bestärkt, Deutschland als eine der größten Industriemächte der Welt könnte sich mit dem Energiegiganten Russland zusammentun und sie aus Europa verdrängen. Mit der Eskalation in der Ukraine sei es schließlich gelungen, Deutschland von Russland zu trennen. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines sei das Sahnehäubchen gewesen. Trotzdem oder gerade deshalb fliegen die Hoffnungen des geopolitisch alarmierten Historikers hoch, Deutschland würde seiner Verantwortung als „Führungsmacht in Europa“ gerecht werden, sich aus der Umklammerung der USA lösen und maßgeblich auf die Entscheidung drängen, dass der Krieg nicht endlos weitergeht, sondern Frieden einkehrt. „Wir alle warten darauf, dass Berlin den Krieg beendet.“

Todds Stoßgebet, das bei weiten Teilen der Bevölkerung sein Amen fände, hat nicht die Ignoranz im Blick, die sich des deutschen Staatsschiffs bemächtigt hat. Ampel und Merzsches Oppositionstheater verharren trotz gravierender wirtschaftlicher Nachteile in überseeischer Nibelungentreue. Ideologische Verblendung lassen sie widerspruchslos hinnehmen, dass die fehlgesteuerte EU jede Option eines selbstbewussten, ökonomisch aufstrebenden, global gerechteren Players verloren hat. Scheuklappen hindern ihren Blick auf die Realitäten der Zeit. Die westliche Sphäre unerfüllter Wertebehauptungen verliert an Einfluss. Neokolonialistische Attitüden, oft als Entwicklungshilfe getarnt, stoßen auf ein neues Selbstbewusstsein der Völker im globalen Süden. Die Zukunftsorte des Fortschritts verlagern sich. Die Welt ist im Wandel. Todd schreibt, die „wahre Dynamik des Niedergangs des Westens ist ein innerer Zerfall mit Amerika im Zentrum“. Der Neoliberalismus habe Wirtschaft und Gesellschaft zerstört. Außenpolitisch drücke sich das in der Bevorzugung des Krieges gegenüber dem Frieden aus.

Hierzulande ist „Kriegstüchtigkeit“ das medial verordnete Mantra, mit dem die Gesellschaft militarisiert und der irrsinnige Reibach der Waffenindustrie begründet werden soll. Jüngst wurde gemeldet, dass mehrere Ministerien an einem Strategiepapier zugunsten der „Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie“ arbeiten. Beschleunigt und nach vereinfachten Verfahren sollen Rüstungsfabriken entstehen. Die geplante Stationierung von Langstreckenwaffen der USA in der BRD hat Verteidigungsminister Pistorius ad hoc für unverzichtbar erklärt. Gegen zaghafte Einwände des SPD-Politikers Mützenich polterte Außenministerin Baer­bock, dem eiskalten Kreml sei nur mit verstärkter Abschreckung beizukommen. Todds Hoffnungen auf Deutschlands Friedenstüchtigkeit verfangen sich in bellizistischen Netzen. „Nicht in meinem Namen“ wäre Volkes beste Antwort auf Vorbereitungen zum Krieg.

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"Scheuklappen gegen Realismus", UZ vom 2. August 2024



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