EU gelingt es nicht, Freihandelsabkommen abzuschließen – deutsche Wirtschaft kritisiert „Werteimperialismus“

Scheiternder Oberlehrer

Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Australien hatte die EU schon im Juni 2018 begonnen. Anlass war zum einen das Interesse der Industrie, einen neuen Absatzmarkt zu öffnen. Darauf gedrängt hatten vor allem deutsche Exporteure, auch wenn Australien mit nur knapp 27 Millionen Einwohnern begrenzte Abnahmekapazitäten hat. Wichtigstes Ziel war aufseiten der EU allerdings, besseren Zugriff auf Australiens Ressourcen zu erlangen. Das Land verfügt unter anderem über riesige Lithiumvorkommen, über die zweitgrößten Vorräte an Kobalt und über umfangreiche Lagerstätten etwa von Seltenen Erden, Nickel und Graphit. Dabei handelt es sich um Rohstoffe, die eine zentrale Bedeutung für wichtige Technologien der Energiewende besitzen. Zurzeit sind die EU-Staaten bei ihrem Erwerb in hohem Maß auf China angewiesen. Ein Freihandelsabkommen mit Australien sollte helfen, die Abhängigkeit zu lindern. Als Gegenleistung forderte Canberra besseren Zugang für Australiens Landwirte zum Markt der EU. Daran sind die Verhandlungen jetzt gescheitert. Australiens Landwirtschaftsminister erklärte am Montag vergangener Woche, Brüssel sei nicht zu ernsthaften Zugeständnissen bereit gewesen; Canberra brach die Verhandlungen ab. Wegen der EU-Wahl 2024 und der Wahl in Australien 2025 werden weiteren Gesprächen keine Chancen eingeräumt.

Vom Scheitern bedroht sind zudem die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen der EU mit dem südamerikanischen Staatenbündnis Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay). Diese wurden bereits im Juni 1999 gestartet und konnten – nach mehreren Unterbrechungen – erst im Juni 2019 abgeschlossen werden. Allerdings steht bislang noch die Ratifizierung aus. Attraktiv ist das Abkommen vor allem für die EU-Industrie, der es den riesigen Mercosur-Absatzmarkt mit 260 Millionen Einwohnern öffnen würde. Sehr für das Abkommen starkgemacht hat sich die deutsche Industrie. Die Ratifizierung stockt, weil Länder mit starken Agrarinteressen – Frankreich, Irland, Österreich – sie unter dem Vorwand blockieren, eine Zusatzvereinbarung zum Schutz des Regenwaldes schließen zu wollen. Im Mercosur wird dies als willkürliche Schikane zurückgewiesen. Stattdessen verlangen Brasilien und Argentinien neue Schutzvorschriften für ihre von der EU-Konkurrenz bedrohte Industrie. Zurzeit stecken die Verhandlungen wieder einmal fest. Dabei ist inzwischen unklar, wie lange der Mercosur überhaupt noch zur Verfügung steht. In Argentinien droht der ultrarechte Präsidentschaftskandidat Javier Milei mit dem Austritt aus dem Bündnis. In Uruguay wird, da das EU-Abkommen ausbleibt, über ein Freihandelsabkommen mit China auf nationaler Ebene diskutiert; dies würde den Mercosur sprengen.

Allenfalls schleppende Fortschritte verzeichnet die EU in den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Indien. Auch diese wurden bereits im Jahr 2007 aufgenommen und mussten 2013 wegen unzureichender Fortschritte abgebrochen werden; seit Juni 2022 wird nun weiterverhandelt. Eine besondere Bedeutung wird dem Abkommen beigemessen, weil die EU Indien als alternativen Produktionsstandort und als alternativen Absatzmarkt zu China nutzen will; ein Abbau von Handelsbarrieren würde dies erleichtern. Allerdings gilt Indien, ähnlich wie die EU, als schwieriger Verhandlungspartner. Im Februar hatte sich Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Besuch in Neu-Delhi energisch für Fortschritte in den Verhandlungen starkgemacht; im Juli hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ebenfalls während eines Aufenthalts in der indischen Hauptstadt versucht, die Gespräche zu beschleunigen. Der ursprüngliche Plan, das Freihandelsabkommen noch in diesem Jahr unter Dach und Fach zu bringen, gilt inzwischen allerdings als nicht realisierbar. „Jeder, der einigermaßen bei Verstand ist und die Komplexität dieser Verhandlungen kennt, wird nicht für eine Sekunde daran glauben, dass dies ein erreichbares Ziel war“, erklärte Ende Oktober der EU-Botschafter in Indien, Hervé Delphin; die Verhandlungen über das Abkommen würden noch erheblich mehr Zeit verschlingen.

Schwierigkeiten gibt es auch bei den Bemühungen, Freihandelsabkommen mit den Staaten Südostasiens zu schließen. Das 2007 gestartete ehrgeizige Vorhaben, sich auf ein Abkommen mit dem Staatenbund ASEAN zu einigen, musste bereits 2009 abgebrochen werden. Seitdem ist die EU bemüht, ersatzweise Freihandelsvereinbarungen mit einzelnen ASEAN-Ländern zu schließen. Erfolgreich war das bisher lediglich bei der – strategisch freilich bedeutenden – Handelsdrehscheibe Singapur sowie bei Vietnam, das sich als Alternativstandort zu China zu profilieren sucht; Freihandelsabkommen mit den beiden Staaten traten im November 2019 beziehungsweise im August 2020 in Kraft. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Indonesien, die bereits im Juli 2016 aufgenommen wurden, stecken fest. Von Bedeutung sind sie, weil Indonesien zum einen mit seinen 280 Millionen Einwohnern der größte Markt des ASEAN-Bündnisses ist und zum anderen als aufstrebendes Schwellenland mit schnell steigendem Einfluss gilt, das die EU enger an sich zu binden sucht. Die Gespräche stocken nun vor allem, weil die EU die Palmölherstellung in Indonesien zurückdrängen will, die dort zur Reduzierung der Regenwaldbestände führt. Jakarta begreift dies als Diskriminierung indonesischer Produzenten zugunsten der Konkurrenz aus der EU; es setzt sich also entschlossen dagegen zur Wehr.

Aus der deutschen Wirtschaft kommt inzwischen scharfe Kritik. Für Exporteure wiegen die Fehlschläge in den Freihandelsbemühungen schwer. Zum einen suchen sie verzweifelt nach Auswegen aus der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise. Zum anderen ziehen konkurrierende Staaten an Deutschland und der EU vorbei. So ist etwa seit dem 31. Mai 2023 ein Freihandelsabkommen zwischen Britannien und Australien in Kraft; zudem ist es Britannien gelungen, dem asiatisch-pazifischen Freihandelsbündnis CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) beizutreten, das seiner Industrie nun Absatzmärkte unter anderem in Südostasien öffnet. Das wiederholte Scheitern der EU wiederum wird einerseits darauf zurückgeführt, dass sich die divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten nicht vereinen lassen: Die deutsche Industrie und die französische Landwirtschaft stehen sich regelmäßig im Weg. Zum anderen sind Drittstaaten immer weniger bereit, sich den immer umfassenderen Forderungen der EU vor allem in Klima- und Umweltbelangen zu beugen. Dies gelte als „Werteimperialismus“, konstatieren wirtschaftsnahe Kommentatoren; die EU trete immer öfter „wie ein Oberlehrer auf“. Dabei müsse – spätestens seit der BRICS-Erweiterung – „allen klar sein: Die Zeiten, in denen sich Europa dank seiner Wirtschaftsmacht hofieren lassen konnte, sind vorbei.“ Diese Erkenntnis aber sei in Brüssel offenbar noch nicht angekommen.

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"Scheiternder Oberlehrer", UZ vom 17. November 2023



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