Der 11. September markiert verschiedene historische Wendepunkte. Am 11. September 1973 stürzte das chilenische Militär mit Unterstützung der US-Regierung den gewählten Präsidenten Salvador Allende, am 11. September 2001 stürzten drei Türme des World Trade Center (WTC) in New York ein und am 11. September 2021 sollte der US-Kampfeinsatz in Afghanistan zu Ende gehen.
Diese Ereignisse stehen nicht nur in einem formalen, sondern auch in einem inhaltlichen Kontext. Die Daten markieren den Beginn und das Ende einer Ära. Es sind die Phasen des Aufstiegs des US-Imperialismus zur unangefochtenen Weltmacht, seiner Hybris, seiner Überdehnung und seines inneren wie auch äußeren Verfalls.
1973 begann der Rückzug des US-Militärs aus Vietnam. Das Pentagon hatte de facto seine Niederlage eingestanden. Gleichzeitig wollten die US-Strategen einen Aufschwung der Befreiungsbewegungen – insbesondere in Lateinamerika, aber auch in anderen Regionen der Dritten Welt – verhindern. Che Guevara hatte 1966 in seiner Botschaft an die Tricontinental-Konferenz gefordert: „Amerika, ein vergessener Kontinent in den letzten Befreiungskämpfen, hat nun angefangen, sich durch die Tricontinental Gehör zu verschaffen. Und mit der Stimme der Avantgarde seiner Menschen hat heute die kubanische Revolution eine Aufgabe von sehr viel größerer Relevanz: das Gestalten eines zweiten oder dritten Vietnam, oder des zweiten oder dritten Vietnam der Welt.“
Der Comandante war 1967 ermordet worden, aber seine Ideen bewegten weiter die im Aufbruch befindliche Dritte Welt. Die US-Strategen dagegen wollten nach Vietnam eine weitere Niederlage um jeden Preis verhindern. Schon die US-Atomkriegsplaner der 1950er- und 1960er-Jahre hatten klargestellt, dass es ihnen auf ein paar Hundert Millionen Tote mehr oder weniger nicht ankam. Das allerdings verhinderte die sowjetische Bombe.
Mit dem 11. September 1973, dem Militärputsch in Chile, begann gleichzeitig die Phase der konterrevolutionären Offensive und der neoliberalen Gegenreformation. In gewisser Weise wurde mit dem Putsch das Startsignal zur militärischen, geheimdienstlichen und finanzpolitischen Rückeroberung der in den kolonialen und neokolonialen Befreiungskämpfen verlorenen Gebiete für den US- und europäischen Imperialismus gegeben.
Mit Vietnam war zwar ein weiterer großer Krieg für das Imperium verloren gegangen, aber ein noch weit wichtigerer war gewonnen worden: Die VR China war durch das Gespann Nixon/Kissinger zu einem De-facto-Alliierten des Imperialismus geworden. Lateinamerika versank im Blut der US-gestützten Militärputsche und Todesschwadronen. Dies und die CIA-gestützte „Operation Condor“ – der gezielte Mord an mehr als 50.000 Menschen sowie die Einkerkerung weiterer Hunderttausender in den Folterverliesen des Kontinents – sorgten für Jahrzehnte der Friedhofsruhe und der ungehemmten Ausplünderung der arbeitenden Menschen Lateinamerikas.
Nach dem Zu-Tode-Rüsten der Sowjetunion steigerte sich das globale Herrschaftsprojekt des US-Imperialismus zum offenen Eroberungskrieg. Mit dem herbeigelogenen „Zweiten Golfkrieg“ machten die US-Geostrategen schon 1991 klar, dass sie – da sie kein militärisches Veto der Sowjetunion mehr fürchten mussten – Anspruch auf den Nahen und Mittleren Osten – ein Gebiet, in dem 70 Prozent der globalen Fossilenergie-Ressourcen lagerten – erhoben. 2001 kam mit dem 11. September, mit „9/11“, das von den US-Neokonservativen (Neocons) herbeigesehnte „katastrophische und katalysierende Ereignis“, das „Neue Pearl Harbor“, wie es in ihren zuvor geschriebenen Dokumenten hieß. Der Einsturz der drei WTC-Türme – der Einsturz von WTC-7 wird gern schamhaft verschwiegen, da er ja nicht von einem Flugzeug getroffen wurde, aber ebenso mustergültig einstürzte – lieferte den Vorwand und die Generalermächtigung für die seit Anfang der 1990er-Jahre intensiv vorbereiteten Kriege im Nahen und Mittleren Osten.
Diese Kriege um die Eroberung und Neugestaltung der mit „Greater Middle East“ bezeichneten Großregion im Sinne einer durch die westlichen Großmächte handhabbaren und profitabel ausbeutbaren „Balkanisierung“ erforderten eine ungeheure Aufrüstung der imperialen Militärmaschine und eine innere Zurichtung der westlichen Gesellschaften auf die permanente Kriegführung, den „Global War On Terror“ (GWOT), die „extralegalen Tötungen“ und die systematische Folter. Das Ziel hieß „Full Spectrum Dominance“. Seither befinden sich die westlichen Gesellschaften im permanenten Kriegs- und Ausnahmezustand. Deutschland wurde am Hindukusch und in Mali „verteidigt“. Der seither „eingebettete“ (embedded) Journalismus sieht sich als Transmissionsriemen und kampagnenfähiger Verstärker der Regierungspropaganda. Die Meinungs- und Bewusstseinsindustrie ist zu ungeheuren Dimensionen aufgerüstet worden. Die Kriegs- und Formierungspropaganda läuft „24/7“, nahezu pausenlos rund um die Uhr. Wie schon „Wilhelm Zwo“ kennt auch der imperiale Kriegs- und neoliberale Krisenstaat „keine Parteien mehr“. Alle Parteien, die es im westlichen Parlamentarismus zu etwas bringen wollen, sind bei Strafe des medialen Exorzismus auf das Ausplünderungs- und Kriegsprojekt festgelegt und gleichgeschaltet. Wählbar sind allenfalls Gesichter, die imperialistische Politik ist es nicht. Seither hat es das private, öffentliche und geheimdienstliche Überwachungs- und Beeinflussungsprogramm geschafft, eine nahezu komplette digitale Überwachung des öffentlichen und privaten Raumes zu errichten und die Menschen zu gläsernen Personen zu machen, deren privateste Empfindungen erfasst, gespeichert, zusammengeführt und ausgewertet werden. Diese Überwachung und Kontrolle ist im Zuge der Corona-Krise bis hin zu Kontakt- und Ausgangssperren und einer Offenlegungspflicht für den Gesundheitsstatus ausgeweitet worden. Der angloamerikanische Geheimdienstapparat der „Five Eyes“ hat den erklärten Anspruch, alles, was global digital verfügbar ist, aufzuzeichnen, zu speichern und operativ verfügbar zu halten. Daneben sind die mit den Diensten eng verbundenen US-amerikanischen IT-Konzerne zu allmächtigen Zensur- und Kontrollinstanzen avanciert, die sogar einen US-Präsidenten zensieren können. Deutlicher lässt sich die unbeschränkte Herrschaft des Großen Geldes und seines geheimdienstlich-militärisch-medial-industriellen Komplexes kaum illustrieren.
Mit dem 11. September 2021 – genauer: wenige Tage zuvor – geht die 20-jährige Phase des GWOT zu Ende – mit einem geostrategischen Paukenschlag. Der nahezu kampflose Sieg der Taliban, die das Land in nur elf Tagen nach einem ebenso chaotischen wie fluchtartigen US-Abzug im Saigon-Style unter Zurücklassung von militärischem Gerät im Wert von 90 Milliarden US-Dollar übernehmen konnten, hat die Entscheidung der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung – einschließlich der Afghanischen Nationalarmee (ANA) – für ein Ende der jahrzehntelangen imperialen Kriege, der Zerstörungen, der Korruption, der Razzien, der Drogen und des Sterbens klargemacht. Und wenn die Taliban die Kraft sind, die dieses „Wunder“ vollbringen kann, dann eben mit den Taliban. Ironie der Geschichte: Die Unterstützung der kommunistischen Saur-Revolution 1978 sollte nach dem Wunsch des US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski für die Sowjetunion zum Vietnam werden. Die Finanzierung und Bewaffnung der „Mudschahedin“ und die Erschaffung der Taliban haben indes in der Konsequenz auch zu einem zweiten Vietnam des US-Imperiums geführt – ein zweites Vietnam sicher nicht im Sinne Che Guevaras, aber zumindest mit ähnlichen geopolitischen Konsequenzen.
Mit der Rückkehr des Islamischen Emirats von Afghanistan, den Niederlagen im Irak und in Syrien, mit den Debakeln in Somalia und im Jemen und mit dem zugrunde gerichteten Libyen ist das „Greater Middle East Project“ krachend gescheitert – trotz des gigantischen Aufwands, trotz der Billionen von US-Dollar, trotz der mächtigsten Kriegsmaschine der Geschichte. Die US-Neocons haben zwar ein blutiges und zerstörerisches Chaos produzieren können, aber die Welt hat drastisch vor Augen geführt bekommen, dass das US-Imperium zu einer konstruktiven Aufbauleistung völlig unfähig ist und was die „westlichen Werte“ und die „regelbasierte Weltordnung“ eigentlich bedeuten. Mit dem Ergebnis, dass immer mehr Menschen ein „Neues Amerikanisches Jahrhundert“, wie es von den US-Neocons so euphorisch gefordert wurde, dankend ablehnen.
Die USA sind seit dem 11. September 1973 – infolge der neoliberalen Offensive und der in ihrem Rahmen geführten permanenten Kriege – zu einem überschuldeten, heruntergekommenen Land mit einer korrupten Elite, einer hypertrophen Militärmaschine und extremen sozialökonomischen Widersprüchen geworden. Das Abräumen des New-Deal- und Bretton-Woods-Regelwerks, die neoliberale Reichenbereicherung und die kapitalistische Durchdringung des Globus bescherten den „0,1 Prozent“ hohe „Globalisierungs“-Profite. Aber es gab keinen „Trickle Down“-Effekt, kein Heruntersickern des Reichtums zu den Armen, zur werktätigen Bevölkerung. 80 Prozent der zur ehemals relativ gut gestellten US-amerikanischen Arbeiterklasse gehörenden Menschen existieren heute von der Hand in den Mund. 50 Millionen US-Bürger – fast jeder sechste – leben in Armut. Das Land ist zugunsten einer ausufernden Finanzindustrie weitgehend deindustrialisiert. Seine Infrastruktur verrottet. Was das US-Imperium neben Tod und Vernichtung zu exportieren vermag, ist eine ins Extrem getriebene Variante der eigenen Entwicklung.
Mit der neoliberalen Offensive steigerten sich die Ungleichgewichte der kapitalistischen Wirtschaft seit 1973 rapide. Weltweit leben mehr als 700 Millionen Menschen von weniger als 1,95 US-Dollar pro Tag – und das, obwohl in der VR China 700 Millionen aus der extremen Armut befreit werden konnten. Die westliche Antikrisenpolitik hat mit Billionen frisch gedruckter US-Dollar, Euro, Pfund oder Yen die immer dramatischer werdende Überakkumulation und Überschuldung weiter angeheizt. Die nicht mehr in der Realwirtschaft profitabel anlegbaren Kapitalien drängten in den virtuellen Raum, die Börse und ähnliche fiktive Anlageformen. Eine ausgeprägte überkapitalisierte und überschuldete „Boom-Bust-Ökonomie“ ist entstanden, die seither das sozialökonomische Geschehen dominiert. Mit der „Dotcom-Krise“ im Jahre 2000 ist diese Verwertungsform in eine strukturelle Große Krise eingetreten mit massiven Krisenausbrüchen in den Jahren 2007 und 2019, jeweils mit Folgejahren. 2021 stehen die neoliberale Offensive und die imperiale Kriegs- und Besatzungspolitik erneut vor einem Wendepunkt. Die Hegemonie- und Integrationsfähigkeit des Westens ist weitgehend zusammengebrochen. In den maßgeblichen Zentren und Konferenzen des Großen Geldes wie in Davos wird nach dem Motto „Lass keine Krise ungenutzt vorübergehen“ über eine strategische Neuausrichtung, einen „Great Reset“, debattiert.
Die verheerende Niederlage in Afghanistan hat weitreichende Wirkungen für die innenpolitische Situation im US-Imperium selbst, in seinen Bündnisbeziehungen und in seiner Machtprojektion. US-Präsident Joseph Biden hat sich in seiner Rede zum Fall von Kabul – sehr zum Unmut seiner menschenrechtsinterventionistischen europäischen „Partner“ – ausdrücklich von Demokratie-Promotion und Nationbuilding-Projekten verabschiedet. Es gehe um „vitale (US-)amerikanische Interessen“. Aber was sind die „Sicherheitsgarantien“ des US-Imperiums dann noch wert? Was wird aus Taiwan, was aus der Ukraine? Was wird aus der NATO? Und was aus Deutschland und dem von ihm geführten Europa?
Natürlich hat die komplett kreditfinanzierte und zunehmend kopfloser agierende US-Kriegsmaschine auch weiterhin die Fähigkeit, schwache Länder zu überfallen und in Schutt und Asche zu legen. Aber was kommt dann? Wenn es in 20 Jahren nicht gelingt, schlecht ausgebildete Kämpfer zu besiegen, die kaum mehr als Kalaschnikows und Toyota-Pick-ups besitzen, die weder über eine Luftwaffe noch über potente ausländische Unterstützung verfügen, dann wird der imperiale Herrschaftsanspruch zu einer ausgesprochen fragwürdigen Angelegenheit.
Russland und die VR China sind dabei, das Projekt einer eurasischen Integration nun auch mit Afghanistan voranzutreiben – was hinsichtlich dieses Landes ein komplizierter und durchaus nicht mit Erfolgsgarantie versehener Prozess ist. Vor 50 Jahren war es Washington gelungen, diese Integration zu zerstören, eine schwache Volksrepublik gegen eine zwar militärisch starke, ökonomisch aber zunehmend mit Problemen kämpfende Sowjetunion auszuspielen. Dies dürfte dem weitgehend bankrotten US-Imperium heute nicht mehr gelingen. Die Volksrepublik hat die USA realökonomisch längst überholt. Die „Belt and Road Initiative“ ist selbst für G7-Mitglieder so attraktiv, dass sie sich ihr nicht mehr zu entziehen vermögen. Hier spielt in Zukunft die Musik. Seine verrotteten und brennenden Städte, die endemische Armut, das katastrophale Missmanagement in der Corona-Krise sowie das völlige Scheitern des „Greater Middle East Project“ haben dem „American Way of Life“ jegliche Attraktivität genommen.