Anmerkungen zur „großen“ Koalition in Niedersachsen

Scheinriese

Von Manfred Sohn

Von einer „Großmacht im Landtag“ sprach auf ihrer Titelseite die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ (HAZ), als sie den Abschluß der Koalitionsvereinbarungen von SPD und CDU verkündete. In der Tat ist die Mehrheit von schwarz-orange im Leineschloss erdrückend: den über 100 Abgeordneten, die die Regierung tragen (55 von der SPD, 50 von der CDU) stehen 32 Abgeordnete von „Grünen“, FDP und AfD gegenüber. Die Schwäche der dortigen Opposition ist so erbärmlich, dass die Regierenden das Erbarmen mit ihr sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben haben: Sie wollten, heißt es dort, „Minderheitenrechte im Niedersächsischen Landtag … sichern und eine lebendige Parlamentskultur fördern. Eine starke Demokratie braucht eine Opposition, die ihre Kontrollfunktion wirkungsvoll ausüben kann.“ Bei Lichte betrachtet wird das ein frommer Wunsch bleiben – mit der Wahl der Regierung am 22. November hat sich das dortige Parlament (wie es die bürgerlichen Parlamente meistens tun) in die Rolle eines gut bezahlten, aber einflussarmen Debattierclubs verabschiedet. Die Musik spielt künftig in der Exe­kutive und dem ihr angeschlossenen bürokratischen Apparat.

Zweierlei ist der neuen Regierung an der Leine vom Start weg gelungen. Zum einen hat sie sich in der Stille und Schnelligkeit ihrer Bildung als eine Art positives Gegenmodell zu dem Berliner Possenspiel dargestellt – und damit vor allem den Druck auf die SPD erhöht, dort aus ihrer klaren Oppositions- doch in eine Regierungs- oder wenigstens Tolerierungsrolle überzuwechseln. Zum zweiten hat sie mit Hilfe der Medien einige sozial klingende Zahlen im öffentlichen Bewußtsein verankern können: Beitragsfreiheit für die Kindergärten, 1000 zusätzliche Lehrerstellen, 3000 neue Polizisten, davon 750 sofort. Dies alles steht in der Tat im Koalitionsvertrag, der Leitlinie der Arbeit in den nächsten fünf Jahren sein soll. Solche Verträge sind nicht ganz so wertlos wie Wahlprogramme. Sie haben eine höhere politische Bindungskraft und verdienen auch deshalb unterhalb der Ebene ihrer Überschriften und der von den Regierungspressestellen verbreiteten Meldungen eine genauere Lektüre. Dies soll in aller Kürze hier vor allem in Hinblick auf die eben erwähnte Selbstdarstellung des Kabinetts Weil II. geschehen. Alle Zielstellungen sind bereits in der Präambel der Vereinbarung unter „Finanzierungsvorbehalt“ gestellt worden. Dort heißt es weiter, dass sich die neue Regierung zu einem „Haushalt ohne neue Schulden“ verpflichte. Falls also eine Krise oder auch nur eine Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung die gegenwärtig sprudelnden Steuern reduziert, wird es nichts oder weniger werden mit den 1000 zusätzlichen Lehrern – so steht’s zwar nicht in Pressemitteilungen, aber im Vertrag. Sogar unter einem doppelten Vorbehalt steht die versprochene Beitragsfreiheit im Kindergarten: Um das zu erreichen, wollen SPD und CDU „mit den Kommunen eine entsprechende Finanzvereinbarung treffen“ – im Geschäftsdeutsch heißt so etwas eine Vereinbarung zu Lasten Dritter, dessen Zustimmung hier aber noch aussteht.

Schließlich sollte der Blick auch auf die Teile der Pläne dieser künftigen „Großen Koalition“ gerichtet werden, die dank der gelungenen Selbstbeweihräucherung bislang im Nebel geblieben sind. Hinsichtlich kleinerer Krankenhäuser zum Beispiel lässt der Satz „Fusionen und Schwerpunktbildungen sollen gefördert werden.“ nichts Gutes ahnen. Die Bespitzelung hingegen wird intensiviert – beide Parteien „bekennen sich zu einem starken und handlungsfähigen Verfassungsschutz“, wollen die Anforderung einer „erheblichen Bedeutung“ bei sogenannten Vertrauenspersonen (also Spitzeln) streichen und damit ihren Einsatz erleichtern und „die personelle und sächliche Ausstattung des Verfassungsschutzes deutlich verbessern“. Die Sondereinsatzkommandos (SEK) der Polizei bekommen nicht nur neue „sondergeschützte Fahrzeuge“, sondern auch noch einen zweiten Standort in Oldenburg. Bei der Personalausstattung für die Polizei gilt übrigens als einzige Stelle im Vertrag der erwähnte Finanzierungsvorbehalt nicht – „die finanzielle Absicherung der ersten 750 zusätzlichen Stellen“ soll hier schon „in einem Nachtragshaushalt 2018“ abgesichert werden.

So ausgestattet werden die Kräfte des Repressionsapparates keine Kapazitätsengpässe haben, um ein weiteres Vorhaben der Koalition umzusetzen: Abgelehnte Asylbewerber sollen „schnellstmöglich wieder in ihre Heimat zurück(ge)führt werden“ – dafür wird es ordentlich Beifall bei der neuen AfD-Fraktion im Leineschloss geben.

Gegenüber der alten, aus SPD und „Grünen“ gebildeten Landesregierung handelt es sich bei dem, was die acht Millionen Niedersachsen erwartet, ausweislich des Koalitionsvertrages um eine Rechtsverschiebung – allen hübschen Etiketten zum Trotz. Die beiden Parteien werden das zumindest am Beginn ihrer gemeinsamen Regierungszeit durchziehen. Und dennoch: Trotz der erdrückenden Parlamentsmehrheit ist diese Regierung ein Scheinriese. Sie wird ebenso wie die bei den jüngsten Wahlen auf Bundesebene so herbe gerupfte CDU/SPD-Koalition in Berlin mit erheblichen Widerständen zu rechnen haben, sobald die Euphorie der ersten Tage und die Wirkung der blumigen Meldungen über einen Vertrag, in dem sich viele Dornen verbergen, verblasst. Die Kommunisten dieses Bundeslandes werden sicherlich nach Kräften dazu beitragen, den Mantel der Modernität, den sich dieser Scheinriese von der Leine da umgehängt hat, beiseite zuziehen und deutlich zu machen, dass er darunter sozial ziemlich nackt dasteht.

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"Scheinriese", UZ vom 1. Dezember 2017



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