Charles Dickens stellte das Volk in den Mittelpunkt seiner Romane

Schattenseiten

Charles Dickens wurde 1812, während der napoleonischen Kriege, in die unteren Schichten des Kleinbürgertums geboren, deren Lebenserfahrung sich teilweise mit der des Proletariats deckte. Obwohl Dickens selbst der kleinbürgerlichen Autorenperspektive verhaftet blieb, vergaß er nie, wie sein Vater wegen Schulden inhaftiert wurde. Die finanziellen Umstände seiner Familie zwangen ihn, 12-jährig die Schule zu verlassen und in einer Schuhwichse-Fabrik einen 10-Stunden-Tag zu arbeiten. Diese Erfahrung prägte seine Überzeugung, dass kein Kind je solches Leid ertragen sollte.

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Charles Dickens, ungefähr um 1860

Außer Armut und Kinderarbeit erlebte Dickens auch das Bemühen des Kleinbürgertums, angesichts finanzieller Not Fassaden aufrecht zu erhalten. Trotz seines frühen schriftstellerischen Erfolgs wurde Dickens nie selbstgefällig – sein Radikalismus vertiefte sich im Verlaufe seines Lebens. Er sammelte erste journalistischen Erfahrungen als Mitarbeiter radikaler Zeitschriften und geriet dadurch in Kreise der frühen Arbeiterbewegung. So war er zum Beispiel maßgeblich an der Organisation eines Streiks der Reporter der Zeitung „The True Sun“ beteiligt und agierte als ihr Sprecher. Gleichzeitig entwickelte sich seine Freude am Schreiben. 1836 gab er seine Tätigkeit als Reporter auf und verdiente fortan seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf seiner Bücher und Schriften.

Er wurde in die sich rasch beschleunigende Periode der industriellen Revolution hineingeboren, die den Übergang des britischen Kapitalismus in seine imperialistische Phase antrieb. Sein literarisches Schreiben von einer optimistischen Grundhaltung bis hin zu einem ausgeprägten Pessimismus spiegelt also genau die Befindlichkeiten des englischen Radikalismus in eben diesen Jahren wider. Dickens’ produktive literarische Arbeit fällt in den Zeitraum zwischen dem Zusammenbruch der englischen sozialistischen Bewegung unter Robert Owen und ihrer Wiederbelebung unter der Ersten Internationale 1864. In Frankreich entwickelte sich der Realismus des Malers Gustave Courbet, der ohne romantische Verklärung Menschen bei der Arbeit darstellte. Hierin findet sich der Zeitgeist, in dessen Zusammenhang wir nach der Bedeutung von Charles Dickens suchen müssen.

Dickens betrachtete sich stets als einen der einfachen Leute, sympathisierte mit ihnen und entlarvte Unrecht gegen sie. Das machte ihn im Volk anhaltend beliebt. Sein Standpunkt, die Armen wie Menschen zu behandeln, war an sich schon eine revolutionäre Forderung. In seiner Arbeit entwickelte Dickens einen neuen Romantypus. Seine Romane verlagern das Augenmerk weg von den Figuren der begüterten Klassen hin auf das Leben des einfachen, meist städtischen Volkes, von Kindern, Männern und Frauen, die mit den Herausforderungen ihres Alltags konfrontiert sind. Durch seinen ausgeprägten Sinn für Individualität gestaltete er diese gewöhnlichen Menschen außergewöhnlich lebendig. Er zeigt seinen Lesern die Schattenseite der Gesellschaft in der ersten großen Industriemetropole der Welt. Seine wirklich interessanten und wertvollsten Menschen sind in den unteren sozialen Schichten angesiedelt.

1842 reiste Dickens als engagierter Befürworter amerikanischer Unabhängigkeit in die VereinigtenStaaten, um die Demokratie seiner Träume verwirklicht zu finden. Nicht nur war er enttäuscht, er war auch empört über das Fortbestehen der Sklaverei und ihre enthusiastische Verteidigung durch viele, denen er begegnete. Nach seiner Rückkehr schrieb er „Aufzeichnungen aus Amerika“, die die US-amerikanische Gesellschaft stark kritisierten, allem voran Sklaverei und Gewaltbereitschaft sowie extremen Individualismus. Im kurz darauf veröffentlichten Roman „Martin Chuzzlewit“ schilderte er ebenfalls den Konflikt zwischen Erwartung und Wirklichkeit in den USA. Bis zu seinem Amerikabesuch richtete sich Dickens’ Perspektive ausschließlich auf Südengland, während der Hauptimpuls des Chartismus, einer frühen Reformbewegung der britischen Arbeiterklasse, aus den industriellen Midlands und dem Norden kam. Es überrascht daher nicht, dass Dickens’ Radikalismus in seinen früheren Romanen gemäßigter war und zunächst zufällige Missstände darstellte. In der Entwicklung seines Werks jedoch erweist sich zunehmend das gesamte Gesellschaftssystem als zutiefst verrottet und unreformierbar.

Als Beispiel möchte ich kurz auf einen der späteren Romane von Dickens, „Große Erwartungen“ (1860/61), eingehen, in dem die titelgebende Erwartung von einem Jungen aus der arbeitenden Klasse getragen wird und mit der Hoffnung auf das Wohlwollen einer wohlhabenden Gönnerin verbunden ist. Der Roman beschreibt die Entwicklung des jungen Mannes Pip und den Schock der Desillusionierung. In diesem Buch besteht absolut keine Hoffnung auf Besserung der Zustände durch die herrschende Klasse. Stattdessen ist es Magwitch, ausgestoßen, vom Gesetz brutal behandelt, betrogen und ausgebeutet, der Pip gegenüber Dankbarkeit und Großzügigkeit erweist. So wie die Bourgeoisie ihren Reichtum der Ausbeutung der werktätigen Klassen schuldet, verdankt Pip seinen Reichtum Magwitch, und Pip ist ebenso undankbar.

Dickens’ Darstellung der beiden Anwaltsfiguren, Jaggers und seines Angestellten Wemmick, ist auch bemerkenswert. Äußerst rücksichtslos im Arbeitsleben, führen sie ein völlig entgegengesetztes Privatleben. Erfolg in der Geschäftswelt wird nur auf Kosten der eigenen Menschlichkeit erzielt. Jaggers wäscht sich immer die Hände, nachdem er eine besonders schmutzige Arbeit erledigt hat. Auch Pip verändert sich in der Zeit seiner „Erwartungen“ sehr auf Kosten seiner Menschlichkeit, wie es besonders schmerzhaft in seiner schändlichen Behandlung nahestehender Menschen zum Ausdruck kommt.

Der Roman beschreibt die Torheit, sich einer Illusion hinzugeben, und wie die Verlockung großer Erwartungen zur Katastrophe führt. Dickens’ ursprüngliches Ende unterstrich Pips völligen Bruch mit seinen Sehnsüchten nach sozialem Aufstieg und die Einsicht in die Herzlosigkeit der „besseren“ Gesellschaft. Doch ließ sich Dickens von seinem geplanten, gnadenlos konsequenten Romanausgang abbringen. Unter dem Druck des Romanciers Bulwer Lytton änderte er sein beabsichtigtes Ende zugunsten eines unwahrscheinlicheren, glücklicheren Ausgangs. Man möchte Shaw zustimmen, der Dickens‘ ursprünglichen, realistischeren Ausgang als das eigentliche „happy ending“ beschrieb. Die Logik des Romans widerspricht dem veränderten Ende.

Als Charles Dickens 1836 mit dem Schreiben begann, konnten in England weniger als 50 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Mehr als jeder andere Schriftsteller seiner Zeit trug Dickens dazu bei, den Wunsch nach Bildung in der einfachen Bevölkerung zu wecken, indem er – meist in Zeitschriften abgedruckte – Geschichten veröffentlichte, die die Menschen wirklich lesen wollten, weil sie sich mit den Figuren identifizieren konnten.

Dickens‘ Einfluss auf Schriftsteller nach ihm ist groß, zum Beispiel lebt er in Robert Tressells „Menschenfreunde“ weiter. Tressell erweitert nicht nur den Fokus von Dickens, indem er ein Panorama von Menschen aus der Arbeiterklasse darstellt, er ist auch in seiner Verwendung von Namen oder Motiven mit der Macht sozialer Verallgemeinerung eindeutig in der Dickens‘schen Tradition verwurzelt. In diesem Sinne bereiten Dickens‘ Romane den Boden für die Literatur der Arbeiterklasse. Charles Dickens starb vor 150 Jahren, am 9. Juni 1870, beigesetzt wurde er in Westminster Abbey gegen seinen Wunsch eines einfachen Begräbnisses.

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"Schattenseiten", UZ vom 12. Juni 2020



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