Heinrich Mann, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, starb – noch im kalifornischen Exil – vor 75 Jahren am 11. März 1950. Sein literarisches Schaffen, das von tiefem Engagement für soziale Gerechtigkeit und politische Veränderung geprägt war, hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Manns Werk zeichnet sich durch eine scharfe Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit aus, insbesondere an den Machtstrukturen des wilhelminischen Kaiserreichs. Seine Romane sind nicht nur literarische Meisterwerke, sie fangen den Geist einer Epoche ein und reflektieren ihn kritisch.
Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 durch Bismarck markierte den Beginn eines autoritären Nationalstaates, der unter preußischer Führung von Militarismus, Obrigkeitsdenken und nationalistisch-chauvinistischer Expansion geprägt war. Dieser Staat war Ausdruck der Interessen der herrschenden Klassen – des Junkertums und des Bürgertums –, die ihre Macht durch Repression und Chauvinismus sicherten. Nach 1890 wandelte sich das Kaiserreich unter Wilhelm II. zu einer aggressiven imperialistischen Macht: Die Weltpolitik und das Streben nach einem „Platz an der Sonne“ waren Ausdruck der inneren Widersprüche des Kapitalismus, die nun globale Expansion forderten. Massive militärische Aufrüstung und Dominanzstreben richteten das Land zunehmend auf Konfrontation aus und schufen die Voraussetzungen für den Ersten Weltkrieg.
Heinrich Manns „Der Untertan“ spiegelt diesen Geist des wilhelminischen Deutschlands wider und thematisiert auch die Rolle der Bourgeoisie, die sich den herrschenden Strukturen anpasste und sie stützte. „Der Untertan“ ist somit nicht allein eine literarische Abrechnung mit dem wilhelminischen Deutschland, sondern auch eine scharfe Analyse der Klassenverhältnisse und der ideologischen Mechanismen, die den aufstrebenden Imperialismus stützen.
Manns Romane, die die Trilogie des Kaiserreichs – „Der Untertan“ (1914/1918), „Die Armen“ (1917) und „Der Kopf“ (1925) – ausmachen, sind Meilensteine des politischen Romans. Sie gewinnen ihre Perspektive aus der absehbaren und notwendigen Umwälzung des bestehenden Regimes, die Mann mit seinem Werk befördern wollte. Seine Werke sind geprägt von einer tiefen Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Entwicklungen seiner Zeit, die letztlich zur Revolution von 1918 führten.
„Der Untertan“, Heinrich Manns wohl bekanntester Roman, ist nicht nur ein literarisches Meisterwerk, sondern auch eine der schärfsten und präzisesten Gesellschaftsanalysen des wilhelminischen Deutschlands. Der Roman zeichnet ein satirisch überhöhtes Bild des deutschen Bürgers unter der Regierung Wilhelms II. und entlarvt die Mechanismen von Macht, Unterwürfigkeit und Opportunismus, die das Kaiserreich durchdrangen. Im Mittelpunkt steht die Figur des Diederich Heßling, eines opportunistischen, machthungrigen und zugleich schwachen Charakters, der sich von einem verängstigten jungen Menschen zum skrupellosen Fabrikanten und Kommunalpolitiker entwickelt. Heßling verkörpert den Typus des „Untertanen“, der sich bedingungslos den herrschenden Autoritäten unterwirft und gleichzeitig selbst nach Macht strebt, um andere zu unterdrücken. Im Elternhaus durch den autoritären, strafenden Vater vorbereitet, begegnet den Lesern ein kriegsfreudiger Gymnasiallehrer, der sich vor seinen Schülern gewissenloser Brandschatzung und des Mordes an Frauen und Kindern im Krieg von 1870/71 rühmt, die Schüler zu irrationalem Völkerhass erzieht und auf neue Eroberungskriege vorbereitet. Es zeigt sich schon hier, welch große Kreise des Bürgertums zu Beginn des imperialistischen Zeitalters von Großmachtchauvinismus erfasst sind. Hinzu kommt die pragmatische Zerstörung der Selbstachtung der Schüler, die in der sich anschließenden Armee konsequent weitergeführt wird.
Die Handlung des Romans trägt sich in der fiktiven Provinzstadt Netzig zu und beschreibt politisch-ökonomische Entwicklungen, die das gesellschaftliche Leben der 1890er Jahre bestimmten. Heinrich Mann verwebt geschickt historische Ereignisse wie die Straßenunruhen vom Februar 1892, die Jahrhundertfeier der Befreiungskriege von 1813 und die Zabern-Affäre (ein politischer Skandal, bei dem das Militär in Elsass-Lothringen repressiv gegen Zivilisten vorging) in die Handlung, um ein lebendiges Bild der Epoche zu schaffen. Durch diese historische Verankerung gelingt es ihm, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des Kaiserreichs in einem poetischen Bild zu verdichten und zugleich zu persiflieren.

Der Autor parodiert dabei den Erziehungsroman. Heßlings „Erziehung“ steht in krassem Gegensatz zu den liberalen und humanistischen Idealen, die traditionell mit einem Bildungsroman verbunden sind. Statt zur Selbstfindung und moralischen Reife zu führen, wird Heßling zu einem willenlosen Werkzeug in den herrschenden Machtstrukturen. Seine Erziehung zielt darauf ab, alle „weichen Stellen“ seines Gemüts zu beseitigen und ihn zu einem „harten“ Mann zu formen, der sich bedingungslos den Autoritäten unterwirft und selbst Teil des Unterdrückungsapparates wird. Diese Entmenschlichung wird besonders deutlich in Heßlings Verhältnis zu seiner Umwelt: Er ist ein Mann, der in Phrasen redet, dessen Persönlichkeit vollständig von den Floskeln der reaktionären öffentlichen Meinung überlagert wird. Er verkörpert den „Geist der Zeit“ – einen Geist, der von Unterwerfung, Machtgier und Korruption geprägt ist.
Symptomatisch hierfür ist Heßlings Verhältnis zu Frauen, das auch in dieser Sphäre durch Dominanz, Unsicherheit und Opportunismus erfasst ist. Liebe oder die Gleichwertigkeit einer Partnerin kommen ihm nicht in den Sinn. Geformt durch das Vorbild seiner eingeschüchterten Mutter, sind seine Beziehungen von Machtausübung, Angst und Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen bestimmt. Dennoch passen sich nicht alle Frauenfiguren den Erwartungen an. Manche legen einen gewissen Protest an den Tag, doch unterliegen sie letztlich der überwältigenden gesellschaftlichen Macht. Vor allem durch diese Blende ist Heßlings wachsende emotionale Kälte und menschliche Aushöhlung greifbar. Auch auf dieser Ebene wird die Notwendigkeit gesellschaftlicher Umwälzung klar dargestellt.
Heinrich Mann nutzt die Figur des Diederich Heßling, um die bourgeoisjunkerliche Ideologie seiner Zeit satirisch zu entlarven. Indem er authentische Schlagworte wie „Platz an der Sonne“ oder „herrliche Zeiten“ in den Mund Heßlings legt, zeigt er, wie leer und zynisch diese Phrasen in der Wirklichkeit sind. Heßling ist ein Produkt seiner Zeit, ein Mann, der in den Machtverbänden von Unternehmen, Militär, Beamtentum und Kirche aufsteigt, indem er seine persönliche Würde und Verantwortung opfert. Er ist ein „Nichts“, das nur durch Unterwerfung und Anpassung an die herrschenden Strukturen Einfluss gewinnt. Diese Typisierung trifft genau den Kern des imperialistisch werdenden Bürgertums, das sich in seiner Gier nach Macht und Reichtum selbst entmenschlicht. Die Figur des Diederich Heßling ist umgeben von Spiegelfiguren seiner selbst, die alle den gleichen entfremdeten Charakter tragen.
Ein weiteres tragendes Element des Romans ist die Konfrontation zwischen dem ausgedienten liberalen Bürgertum und dem neuen imperialistischen Typus. Die Figur des alten Buck, der an den Idealen von Bildung, Gewissen und persönlicher Verantwortung festhält, steht in scharfem Kontrast zu Heßling. Buck repräsentiert eine vergangene Epoche, in der das Individuum noch eine lebendige Wechselbeziehung zur Gesellschaft hatte. Doch diese Ideale haben in der zunehmend imperialistischen Praxis ihre Gültigkeit verloren. Heßling, der neue bürgerliche Typus, zerstört Buck und mit ihm die letzten Reste einer humanistischen Tradition. Der Untergang Bucks erhält dadurch tragische Züge – er wird von einer Welt vernichtet, die skrupellos alles Menschliche zerstört.
Heinrich Manns Blick auf die Gesellschaft war jedoch nicht frei von Widersprüchen. Seine Perspektive führte dazu, dass er die aufkommende Gesellschaft als von einer einzigen Geistesart beherrscht sah, die das ganze Leben durchdrang. Diese letztlich undifferenzierte Sichtweise prägte auch seine Darstellung der Sozialdemokratie, die er als Teil der kapitalistischen Untertanenwelt bewertete. Die Figur des Arbeiterführers Napoleon Fischer, Heßlings Gegenspieler, ist ein Beispiel für diese etwas pauschalisierende Auffassung. Fischer scheitert trotz seiner Einsichten in den Klassenkampf und seines Einsatzes für demokratische Rechte aufgrund des eigenen Opportunismus.
Ungeachtet dieser Grenzen bleibt Heinrich Manns Werk von großer Bedeutung. Seine Romane sind nicht nur literarische Meisterwerke, sondern zeigen die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung der Lebensverhältnisse auf. Manns Optimismus, der sich in der Hoffnung auf eine revolutionäre Umwälzung manifestiert, gibt seinen Werken eine perspektivische Offenheit. In „Der Untertan“ deutet er diesen Umbruch symbolisch an, als ein Gewitter die Jubiläumsfeier der Herrschenden stört und wie eine Generalprobe für den kommenden Umsturz erscheint. Das Unwetter, das aus der Richtung kommt, „wo das Volk zu vermuten war“, erscheint wie eine Vorahnung des kommenden Aufstandes: „Der Umsturz der Macht von Seiten der Natur war ein Versuch mit unzulänglichen Mitteln gewesen.“ Das Gewitter wird zum hoffnungsvollen Symbol für die Unausweichlichkeit einer Revolution, die das Regime hinwegfegen wird.
„Der Untertan“ ist damit nicht nur ein scharfer künstlerischer Angriff auf die bourgeois-junkerlichen Machtverhältnisse, sondern auch ein Werk von großer historischer und politischer Tiefe. Heinrich Mann gelingt es, die zentralen ökonomisch-politischen Prozesse seiner Zeit in einem literarischen Bild zu verdichten und zugleich die moralische Korruption des Systems aufzudecken. Der Roman bleibt bis heute ein bedeutendes Werk, das nicht nur die Vergangenheit kritisch reflektiert, sondern auch aktuelle Fragen nach Macht, Unterwerfung und Widerstand aufwirft. Als literarisches Werk von Gültigkeit verweist es darüber hinaus auf die Verantwortung von Künstlern, Machtverhältnisse und deren Wirkung auf Menschen zu entlarven und somit auf eine Veränderung hinzuwirken.
Über den Zusammenhang von Kunst und Politik äußerte sich Heinrich Mann unter anderem in seinem berühmten Zola-Essay von 1915: „Die Wahrheit lieben: anders wird keiner groß. Alle ihre Mächte lieben, Wissenschaft, Arbeit, Demokratie: diese große, arbeitende Menschheit, die hinauf will, los von den Beschönigungen und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit. Sich als einen der ihren fühlen und als nichts weiter; im Leben stehen wie alle Welt, dann kann man schildern, was alle Welt erlebt. Nur nicht sich abseits und besonders dünken; teilnehmen als einer unter vielen an der großen Untersuchung über das Jahrhundert, über das moderne Leben.“
Und weiter unten in demselben Essay schreibt Mann nahezu prophetisch ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs:
„Ein Reich, das einzig auf Gewalt bestanden hat und nicht auf Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit, ein Reich, in dem nur befohlen und gehorcht, verdient und ausgebeutet, des Menschen aber nie geachtet ward, kann nicht siegen, und zöge es aus mit übermenschlicher Macht.“
Prophetische Worte, die sich in zwei von deutschem Boden ausgehenden Weltkriegen bewahrheiteten und Gültigkeit für alle imperialistischen Kriege besitzen. Heinrich Manns literarisches Erbe ist ein Aufruf zur kritischen Auseinandersetzung mit Bellizismus und der forcierten geistigen Verkrüppelung von Menschen im Dienste des Imperialismus sowie zur Suche nach einer menschengemäßen Gesellschaft. Anlässlich seines 75. Todestages lohnt es sich, sein Werk neu zu entdecken und die darin enthaltenen Fragen nach Gerechtigkeit, Vernunft und Menschenwürde erneut zu stellen. Heinrich Mann bleibt ein Autor, dessen Stimme auch heute noch zeitgemäß ist.