Über die Wahlen in Britannien

Sauerkrauts

Am 23. Juni 2016 fand irgendwo in Großbritannien ein Musikkonzert statt, das damals viele junge Menschen von der Stimmabgabe beim Brexit-Referendum abgehalten haben soll. Hierzulande hieß es ernsthaft, dass es wegen des Konzerts zum „Leave“-Sieg kam, denn die Jugend ist pro-EU. Bei solcher Qualität der Analyse blieb es bis heute.

Anstatt sich irgendwann auch nur am Rande mit den Gründen der 52-Prozent-Mehrheit, die für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gestimmt hatte, auseinanderzusetzen, rührten deutsche Journalisten danach drei Jahre lang die Trommel für ein neues Referendum. In Britannien blieb das erfolglos, denn dort ist der Wert der Akzeptanz von einmal getroffenen Entscheidungen als ein hohes Gut anerkannt. Nur die Liberaldemokraten stellten sich unverblümt gegen das Abstimmungsergebnis, Labour verhielt sich mit Blick auf die eigene „Leave“-Wählerschaft zunächst vorsichtig. Umso mehr wurde in Deutschland Stimmung gemacht. Kaum ein Tag verging seit 2016, an dem nicht irgendein hier lebender Brite die Vorzüge „Europas“ erklären und das Schreckgespenst einer Visumspflicht an die Wand malen durft, und das deutsche Kapital war sich nicht zu schade, ganzseitige Anzeigen in britischen Blättern zu schalten. Mal waren die 52 Prozent belogen worden, dann hatten sie Ressentiments gegen die Zuwanderung aus Osteuropa, dann wieder drohte der britischen Wirtschaft mit dem Brexit das Ende, und endlich kam auch noch das ewig junge Argument russischer Einflussnahme im Internet.

Nichts fruchtete: Keine Umfrage seit 2016 bestätigte die herbeiphantasierten Mehrheiten für „Remain“. Die allermeisten Briten sind offenkundig nicht sehr wild darauf, dass ausgerechnet Deutschland ihnen die Demokratie nahebringt. „We didn‘t win two world wars to be pushed around by a Kraut“, war bei „leave.eu“ zu lesen, als Angela Merkel Anfang Oktober das „No“ der EU-Führung zu Johnsons Vorschlägen verkündete.

Als Theresa May im Juli scheiterte und Boris Johnson übernahm, hatten sich zwischenzeitlich doch noch zwei Chancen aufgetan. Erstens: Die Ablehnung des Austrittsvertrags durch die nordirischen Koalitionäre und der Rauswurf einiger Fraktionsmitglieder nahmen den Tories die Mehrheit. Zweitens: Der Schlingerkurs von Jeremy Corbyn pendelte sich beim Labour-Parteitag im September bei der Möglichkeit eines neuen Referendums ein – wenn Labour die Wahlen gewänne. Der hierzulande wegen seines linken Programms verachtete Corbyn wurde zum Medien-Liebling von TAZ bis FAZ (zwischen die bei für das deutsche Kapital wesentlichen Dingen kein anderes Blatt geht) und die 1,5 Millionen Wähler, die sich neu einschreiben ließen, waren die stille Reserve – zumal am 12. Dezember kein Open-Air-Konzert stattfinden würde. Ruhig wurde es erst wieder, als die Umfragen nach Ankündigung der Neuwahl einen klaren Tory-Sieg voraussagten, wie übrigens regelmäßig davor.

Die Geringschätzung des 2016er Wählervotums war der Sargnagel für Labour. Wenn auch manche konservative Wähler, die gegen den EU-Austritt sind, dieses Mal zur LDP oder zu Labour wechselten, so gab es umgekehrt auch solche, die für den Brexit bereit waren, mit zugehaltener Nase die Rechten zu wählen.

Und die beleidigte Qualitätsjournaille? Im neuen Jahr werden die deutschen Schreibstuben zur Rache übergehen. Nach dem Marxisten Corbyn wird man dann auf die schottische Nationalistin Sturgeon setzen. Noch 2014 war die Schottische Nationalpartei für ihr Unabhängigkeitsreferendum gescholten worden.

Das britische Erdöl liegt in schottischen Gewässern und Erdöl hat noch immer zum Nation-Building beigetragen. Die deutsche Linie ist simpel: Was in Sachen Krim Sanktionsgrund und für Katalonien verpönt ist, wird für Schottland in die Kategorie Menschenrechte fallen.

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"Sauerkrauts", UZ vom 20. Dezember 2019



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