Handel: Kein Ende im Arbeitskampf absehbar. Unternehmer wollen Reallohnverluste

Sauer und streikbereit

Die Gewerkschaft ver.di hat die Tarifverhandlungen für den Einzelhandel in Bayern für gescheitert erklärt. Nachdem die Gespräche mit den Unternehmern am Donnerstag vergangener Woche ergebnislos abgebrochen wurden, „bleibt uns nur, den Druck in den Betrieben noch zu vergrößern, um zu einer Lösung zu kommen“, kündigte ver.di-Verhandlungsführer Hubert Thiermeyer an. Seit Beginn der Tarifrunde im April gab es allein in Bayern mehr als 800 Streikaktionen in mehr als 100 Betrieben.

Die Tarifverhandlungen im Handel werden regional geführt. Gerungen wird um neue Flächentarifverträge für den Einzel- und Versandhandel sowie für den Groß- und Außenhandel. ver.di fordert mehr oder weniger überall gleich eine Lohnerhöhung von 4,5 Prozent plus 45 Euro bei einer Laufzeit von maximal zwölf Monaten. Zudem sollen die untersten Gehälter auf mindestens 12,50 Euro pro Stunde angehoben werden.

Die Gegenseite stellt sich stur und bietet lediglich Einkommenssteigerungen in Höhe von etwa 2 Prozent an – gestreckt auf drei Jahre! Zu Recht hat die Gewerkschaft das als Provokation zurückgewiesen, denn allein in diesem Jahr wird mit einer Inflationsrate von rund 4 Prozent gerechnet – massive Reallohnverluste sollen nach Ansicht der Konzernherren also die Belohnung für den Einsatz der „Heldinnen und Helden“ in den Monaten der Pandemie sein. Das würde für die Beschäftigten eine Verschärfung der jetzt schon drohenden Einkommens- und Altersarmut bedeuten, warnt ver.di-Bundesfachgruppenleiter Orhan Akman. „Das ist ein Schlag ins Gesicht der Kolleginnen und Kollegen, die Tag für Tag ihre Gesundheit auf Spiel gesetzt haben, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.“

Die Unternehmer fordern außerdem eine „Differenzierung“ des Tarifabschlusses. Demnach sollen Unternehmen, die „von der Pandemie betroffen“ waren, die Lohnerhöhung um Monate verschieben dürfen. Nach welchen Kriterien ein Unternehmen in diese Kategorie fällt, lassen sie bewusst offen. Akman spricht deshalb von einem „Wünsch-dir-was“, das mit der Gewerkschaft nicht zu machen sei: „Die Ausgaben, die die Beschäftigten zu schultern haben, differenzieren auch nicht nach Teilbranchen.“

Im Handel in Deutschland arbeiten mehr als fünf Millionen Menschen, rund 3,1 Millionen von ihnen – vor allem Frauen – im Einzelhandel. Die Arbeitsbedingungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter verschlechtert, Vollzeitstellen mit existenzsichernden Löhnen gibt es kaum noch. Hatte im Jahr 2000 noch die Hälfte der Beschäftigten im Einzelhandel in Vollzeit gearbeitet, sind es inzwischen nur noch 38 Prozent – ein Beleg dafür, dass die ständige Ausweitung der Ladenöffnungszeiten nicht zu neuen Arbeitsplätzen geführt hat. Selbst von den sozialversicherungspflichtig in Vollzeit angestellten Beschäftigten im Handel erhält nach Angaben der Bundesregierung knapp ein Viertel nur einen Niedriglohn, jede sechste der angelernten Beschäftigten muss Aufstockerleistungen der Arbeitsagentur in Anspruch nehmen, weil das Einkommen nicht zum Leben reicht.

Für die Gewerkschaft ist der Arbeitskampf eine komplizierte Herausforderung. Der Organisationsgrad ist gering, auch weil viele Beschäftigte neben ihrem Teilzeitjob im Handel noch einer zweiten oder dritten Tätigkeit nachgehen müssen. Wenn sie schließlich um 22, 23 oder gar 24 Uhr endlich nach Hause gehen können, denken die wenigsten noch daran, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Trotzdem ist die Kampfbereitschaft beeindruckend: Täglich legen bundesweit tausende Beschäftigte die Arbeit nieder, oft unangekündigt und von wechselnder Dauer. „Die Beschäftigten sind sauer und streikbereit. Applaus allein reicht nicht“, betont Jörg Lauenroth-Mago, ver.di-Verhandlungsführer in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. „Wir werden die nächsten Wochen bis zum nächsten Verhandlungstermin nicht abwarten, sondern zu weiteren Streiks aufrufen.“

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"Sauer und streikbereit", UZ vom 6. August 2021



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