„Wertewesten“ will Kampf um globale Dominanz mit Sanktionen doch noch gewinnen

Sanktions-Offensive

Endlich. Wir sind nicht mehr „von Freunden umzingelt“, wie Volker Rühe 1992 voller Sorge ausrief. Der Feind ist klar markiert. Es ist wieder, wie schon seit mehr als einem Jahrhundert, der Russe: Wladimir Putin, der Ultra-Böse. Der „Wertewesten“ hat auf dem Boden zwar klar verloren. Die NATO-Osterweiterung in die Ukraine liegt in Trümmern. Russland wird keine Atomraketen vor seiner Haustür zulassen. Aber propagandistisch haben die US/EU/NATO-Strategen klar die Übermacht. Wir dürfen uns auf Ukraine-„Nachrichten“ in der Dauerschleife einstellen. Man wird an Wilhelm Zwo erinnert: „Ich kenne keine Parteien mehr …“ Auch damals wurde es sehr einsam um die wenigen verbliebenen Marxisten und Internationalisten.

Selbstredend ist Krieg eine Katastrophe. Auch in der Ukraine, welche das erste Bauernopfer im Neuen Kalten Krieg geworden ist. Aber auch die Kriege im Jemen, Somalia und Syrien, um nur einige zu nennen, sind eine Katastrophe. Auch hier fallen Bomben, auch hier sterben Menschen. In noch weit größerer Zahl. Seit Jahren. Nur interessiert es hier niemand. Hier gibt es keine Sondersendungen, keine Sanktionen und auch keine Demonstrationen.

Unter den Bedingungen einer militärischen Defensive bekommen die vom Westen verhängten Sanktionen eine besondere strategisch-propagandistische Bedeutung. Kann man schon auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen, so will man es zumindest auf diesem Wege. Unnötig, an dieser Stelle zu bemerken, dass die mehr als 60 Interventionen und Kriege, welche das US-Imperium seit 1945 unprovoziert losgetreten hat und in denen rund 30 Millionen Menschen starben, bei niemandem der nun so zutiefst empörten neuen Kalten Krieger auch nur den Gedanken an Sanktionen hat aufkommen lassen. Aber nun wurde die Sanktionsoffensive gegen Russland demonstrativ als die härteste überhaupt konzipiert. Von den behaupteten persönlichen Vermögenswerten Wladimir Putins und Sergei Lawrows im Ausland über die Überflugrechte von Aeroflot-Maschinen, von der Absage von Sportveranstaltungen bis hin zur Kappung des russischen Zahlungsverkehrs vom SWIFT-Informationsnetz und der Sanktionierung der russischen Zentralbank (CBR) ist alles dabei. Der vom Westen provozierte Stellvertreterkrieg in der Ukraine soll mit noch mehr Waffenlieferungen am Laufen gehalten werden. Ein gigantisches Aufrüstungsprogramm ist geplant. Der Sozialdemokrat Scholz will die NATO-2-Prozent-Aufrüstungsnorm nun übererfüllen.

Die umfassende Blockade der russischen Finanzindustrie stellt gewissermaßen die „Nuklearoption“ des Westens dar. Sie intendiert einen massiven Wertverlust des Rubel und eine von der russischen Regierung unkontrollierbare Inflation und in Folge den ökonomischen Zusammenbruch. Neu ist das nicht. Wie schon der iranischen, der venezolanischen und der kubanischen Zentralbank soll auch der CBR die Möglichkeiten genommen werden, zur Unterstützung des Rubel auf dem Finanzmarkt einzugreifen. Inwieweit dieser Destabilisierungskrieg Wirkung zeigt, wird abzuwarten sein. Klar ist: Die internationale Verbreitung des Rubel ist begrenzt. Seine Funktion ist hauptsächlich auf den nationalen Geldverkehr konzentriert. Russland verfügt über Devisenreserven im Wert von 630 Milliarden US-Dollar und Goldreserven in Höhe von 2.300 Tonnen (zurzeit etwa 140 Milliarden USD). Selbst wenn die Möglichkeiten der CBR aufgrund der Sanktionen deutlich limitiert werden, dürfte die Zentralbank noch über hinreichende Fähigkeiten verfügen, einen Banken-Run oder ähnliche chaotische Entwicklungen zu unterbinden.

Die Wirkungen dieser Finanzblockade sind allerdings nicht auf Russland begrenzt. Russland erlöste mit Fossilenergieverkäufen 2021 rund 120 Milliarden US-Dollar. Seine Verdrängung aus der SWIFT-Dollar-Sphäre stellt die privilegierte Position des Dollars weiter in Frage. Das US/EU-Sanktionsregime wird von vielen Fossilenergieexporteuren sehr genau beobachtet.

Auch ohne russische Gegenmaßnahmen dürfte der Preis für Fossilenergie in der nächsten Zeit erheblich steigen. Das wird einen weiteren Anstieg der ohnehin erheblichen Inflations­raten im Westen, insbesondere in Europa, zur Folge haben. Die deutsche Wirtschaft wird einen wichtigen Markt verlieren. Konnte sie die Sanktionen von 2014 noch einigermaßen gut umgehen, so dürfte nun für viele Unternehmen endgültig Schluss sein. 2019 erreichte das Exportvolumen Deutschlands in Richtung Russische Föderation 30 Milliarden US-Dollar. Hier sind nicht wenige Arbeitsplätze betroffen. Das wird für viele Menschen gerade in Deutschland gravierend werden. Aber was, wenn die russische Regierung angesichts der gegen sie verhängten Sanktionen nicht einfach stillhält? Was, wenn sie zurückschlägt und den Gas-, Öl-, Kohle- und Rohstoffexport nach Europa einstellt? Russisches Gas befriedigt 40 Prozent des europäischen Gasbedarfs und ist zu vertretbaren Konditionen kaum zu substituieren. Die Folgen wären in jeder Hinsicht desaströs. Die ökonomischen Konsequenzen der Sanktions-Offensive sind noch kaum zu erahnen.

Russland dürfte den Krieg gegen die Stationierung von atomaren US-Erstschlagswaffen an seinen Grenzen wohl gewinnen. „Keinen Schritt zurück!“, den Stalin-Befehl 227, wiederholten auch Sergei Lawrow und Wladimir Putin. Aber das US-Imperium hat in dem Propagandakrieg um seinen Einfluss in Europa einen enormen Erfolg erzielt. Es hat die westeuropäischen Vasallen wieder hinter sich als Führungsmacht versammeln und einen neuen Eisernen Vorhang gegen die Russische Föderation errichten können. Mit dem Buhmann Putin vor Augen ist Deutsch-EU erneut eine US-Kolonie geworden. Und das, auch wenn sich diese Nibelungentreue, wie im Falle Deutschlands, gegen elementare nationale Interessen richtet. Eine derartige Geschlossenheit und Gefolgschaftstreue hat das US-Imperium seit dem 11. September 2001 nicht mehr erreicht. Seine strategische Hauptaufgabe, die Spaltung der europäischen von den eurasischen Mächten, ist (zumindest vorläufig) geglückt. Der Neue Kalte Krieg steht dem alten in nichts nach. Die US-zentrierte finanzkapitalistische „Globalisierung“ ist Geschichte. Die De-Dollarisierung und die De-Coup­ling genannte Aufspaltung der Welt in Einflusszonen schreitet voran. Die Sanktionsoffensive wird nicht ohne Antwort aus den eurasischen Staaten bleiben. Auch der 11. September hatte, historisch betrachtet, eine bemerkenswert kurze Halbwertzeit.

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"Sanktions-Offensive", UZ vom 4. März 2022



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