Die Begründung des Sanktionsurteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. November 2019 (siehe UZ vom 15. November 2019) hält einige Argumente für die Abschaffung der Sanktionen bereit. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hatte in seiner Entscheidung dem Urteil Leitsätze vorangestellt, in denen es unter anderem heißt: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ Und: „Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden …“ Das BVG führt zur Begründung nichts weiter aus, da die sich aus dem GG herleitenden Ansprüche selbst erklären.
Trotzdem gilt es, weitere Begründungen eben aus dieser Rechtssystematik herauszufiltern. Dabei hilft die Begründung des BVG-Urteils vom 5. November 2019.
Bereits in den Leitsätzen ist zu lesen: „Gesichert werden muss einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges’ Verhalten nicht verloren.“
Und weiter, unter Randnummer (Rn) 119: „Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel als einheitliche Gewährleistung zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Verankerung des Gewährleistungsrechts im Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG bedeutet, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung den Menschen nicht auf das schiere physische Überleben reduzieren dürfen, sondern mit der Würde mehr als die bloße Existenz und damit auch die soziale Teilhabe als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet wird.“
Daraus ergibt sich, dass eine Minderung der Leistung nicht dem Grundgesetz (GG) entspricht. Das BVG geht sogar soweit, dass es in Rn 120 formuliert: „Diese Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren.“
Und wer letztlich für eine saubere Festlegung des Existenzminimums verantwortlich ist, ergibt sich aus Rn 122: „Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kommt es vielmehr entscheidend darauf an, dass die Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten wird.“
Was passiert, wenn gemindert wird, beschreiben die Richter so: „Eine Minderung, durch die der Regelbedarf ungedeckt bleibt, führt unweigerlich dazu, dass der einer bedürftigen Person tatsächlich gezahlte Betrag nicht dem entspricht, was zur Gewährleistung des einheitlichen, physische und sozio-kulturelle Bedarfe umfassenden menschenwürdigen Existenzminimums benötigt wird.“
Und dass bei einer Bedarfsgemeinschaft alle Mitglieder betroffen sind, nicht nur das geminderte, wird in Rn 161 dargestellt.
Ebenso wird herausgearbeitet, dass beim ALG II zu berücksichtigen ist, „dass schon die Pauschalbeträge auf einer knappen Berechnung beruhen, die nur in der Gesamtschau für noch verfassungsgemäß befunden wurde ….“ (Rn 190).
Soweit die Stellen in der Begründung, die eigentlich alles hergeben, um die Sanktionen generell für verfassungswidrig zu erklären. Dem gegenüber steht jedoch die von den Richtern unterstellte Verpflichtung des Staates, pflichtgemäßes Verhalten gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen herbeizuführen. Siehe dazu vor allem Rn 209.
Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Ganz einfach: Die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums ist aus den §§ 1 und 20 GG abzuleiten. Die Minderung desselben zur Durchsetzung der gesetzlichen Regelungen eben nicht. Hierzu muss ein aus sich selbst abgeleitetes Recht angenommen werden, das zwar gesellschaftlich anerkannt sein kann, aber aus dem Grundgesetz nicht abzuleiten ist.
Unsere Aufgabe ist es, politisch dafür zu sorgen, dass das höher stehende Recht des GG auf allen Ebenen durchgesetzt wird.