Realer Bedarf wird nicht wahrgenommen

Sanierungsstau

Kommunalpolitische Kolumne von Vincent Cziesla

Die Erscheinungstermine der Mai-Steuerschätzung und des KfW-Kommunalpanels sind wiederkehrende Ereignisse des kommunalpolitischen Kalenders. Beide Publikationen beleuchten die kommunale Finanzsituation. Sie werden intensiv zitiert, diskutiert und ausgewertet. Doch echte Spannung kommt schon lange nicht mehr auf. Es ist wie bei der Bundesliga – alle warten aufgeregt auf das Ergebnis und am Ende ist niemand überrascht. So auch im Jahr 2021: Bayern ist Meister, die Kommunen sind pleite und die Infrastruktur zerfällt.

Das KfW-Kommunalpanel beschreibt einen Investitionsstau von 149 Milliarden Euro; zwei Milliarden mehr als im Jahr zuvor. Wichtig ist zu wissen, dass es sich hierbei um den von den Kämmereien „wahrgenommenen“ Investitionsrückstand handelt und nicht um eine objektiv berechnete Zahl. Der tatsächliche Bedarf dürfte vielfach höher sein, da zentrale Themen nicht ausreichend „wahrgenommen“ werden. So spielt der Klimaschutz noch keine größere Rolle. Im ÖPNV wird nur ein Investitionsrückstand von 0,4 Milliarden Euro wahrgenommen – angesichts der Verkehrswende ein fast schon lächerlich geringer Betrag. Der Investitionsstau in Krankenhäusern taucht in der Untersuchung gar nicht auf. Das könnte an der fortschreitenden Privatisierung des Gesundheitswesens liegen, aber auch daran, dass die Pandemie nichts an den Plänen geändert hat, viele öffentliche Krankenhäuser zu schließen.

Den größten Sanierungsstau sehen die Kämmereien in den Schulen. Da kommen Verwaltungswahrnehmung und gesunder Menschenverstand ausnahmsweise mal zusammen. Denn die deutschen Schulen geben ein fürchterliches Bild ab: verschimmelte Klassenzimmer, undichte Dächer, herabfallende Ziegel. In einer Schule im hessischen Viernheim stürzte vor wenigen Wochen die Decke des Lehrerzimmers ein. Jedes dritte Kind vermeidet den Gang zur Schultoilette, wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ im November vergangenen Jahres berichtete. Diese Bedingungen sind nicht nur dem Lernen abträglich, sondern gesundheitsgefährdend. Der Trend macht wenig Hoffnung: Im Kommunalpanel 2020 wurde der Investitionsrückstand im Schulbereich mit 44,2 Milliarden Euro beziffert. In der aktuellen Ausgabe liegt der Wert bei 46,5 Milliarden Euro. Die getätigten Investitionen reichen also nicht einmal aus, um die bestehende Substanz zu erhalten!

Und es kommt noch schlimmer: Die gegenwärtige Krise ist in der Welt der Kommunalfinanzen noch gar nicht angekommen. Mit Rechentricks und Hilfspaketen wurden die Gemeinden durch das Jahr 2020 getragen. Die Investitionen des vergangenen Jahres waren langfristig geplant und spiegeln daher weitestgehend das Vorkrisenniveau. An dieser Stelle kommt die Steuerschätzung ins Spiel. Die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen sollen 2021 bei 50,5 Milliarden Euro liegen; knapp 5 Milliarden Euro weniger als 2019. Hinzu kommen weitere krisenbedingte Verluste. Allen Appellen zum Trotz haben Bund und Länder noch kein neues „Rettungspaket“ für die Gemeinden aufgelegt oder auch nur angekündigt. Geht die Kanzlerin mit ausgestrecktem Mittelfinger in den Ruhestand und überlässt die kommunale Trümmerlandschaft ihren Nachfolgern? Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Vielleicht finden die Regierenden auch einfach Gefallen an dem, was sie sehen. Möglicherweise klopfen neoliberale Herzen schneller, wenn das Kommunalpanel feststellt, dass immer mehr Anlagevermögen veräußert wird. Die Kommunen finanzierten im letzten Jahr 11 Prozent ihrer Investitionen mit dem Verkauf von Grundstücken, Gebäuden und Betriebsanteilen. Im Jahr 2019 waren es noch 4 Prozent gewesen. Wenn das Tafelsilber schon verscheuert wird, bevor die Krise richtig da ist, werden weitere Privatisierungen folgen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

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"Sanierungsstau", UZ vom 4. Juni 2021



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