Um den Friedrich-Stoltze-Brunnen stehen noch die Sperrgitter, das Wasser fließt schon. Bis 1944 stand der Brunnen hier, später holte man ihn aus den Trümmern, bis vor kurzem stand er an einer anderen Stelle. Ein Reiseführer erklärt einer Gruppe von Bildungsbürgern, wie die Fassaden des Barock gestaltet waren. Um sich herum zeigt er Beispiele an den „schöpferischen Neubauten“, die hier am Hühnermarkt in der Frankfurter Altstadt stehen. Seit Mai können Besucher die gesamte, völlig neu gebaute Altstadt zwischen Dom und Römerberg besichtigen.
Im 19. Jahrhundert waren die Fachwerkhäuser der Altstadt, die das aufsteigende Bürgertum in den Jahrhunderten zuvor hatte bauen lassen, zu Wohnungen des Proletariats geworden. Die Bürger klagten über Kriminalität und Sittenverfall in den engen Gassen, die Arbeiterfamilien versuchten, trotz nasser Wände und schlechter Abwasserleitungen ihre Gesundheit zu schützen; die Kommunisten hatten hier eine ihrer Hochburgen. 1944 warfen britische und US-Flugzeuge Tonnen von Bomben ab, der Feuersturm ließ wenig mehr als den mittelalterlichen Dom stehen. Nach dem Krieg stand die Frage: Die Ruinen einreißen und ein ganz neues Zentrum bauen oder zumindest die alte Straßenstruktur und die kleinteilige Bebauung erhalten? Der Magistrat entschied sich für Neubauten und eine autogerechte Gliederung. Die heutige Frankfurter Innenstadt ist das Ergebnis.
Vor einigen Jahren beschlossen die Stadtverordneten, einen kleinen Teil der Altstadt zwischen Dom und Römerberg neu bebauen zu lassen. Dort stehen nun 35 neue Häuser, 15 davon von der Stadt errichtete Rekonstruktionen historischer Gebäude, 20 Neubauten, die sich nach Vorgaben der Stadt in das Ensemble einfügen sollten. 200 Millionen Euro gab die Stadt dafür aus.
An den rekonstruierten Gebäuden konnten Handwerker beweisen, dass sie traditionelle Techniken beherrschen. Hinter den historisierenden Fassaden stehen moderne Häuser. Hinter den Schaufenstern läuft der Innenausbau, in den künftigen Geschäften liegen Lüftungsrohre unter Betondecken. Was aussieht wie Sandsteinblöcke, klingt hohl, wenn man dagegenklopft.
Diese neue Altstadt greift den historischen Zuschnitt der Straßen und die kleinteilige Aufteilung der Grundstücke wieder auf. Neben rekonstruierten Häusern stehen Gebäude, die traditionelle Formen variieren: Die Satteldächer laufen spitz zu; wie bei mittelalterlichen Häusern, die so mehr Platz in den oberen Stockwerken gewinnen sollten, ragt jedes Geschoss als Auskragung ein wenig weiter vor. Trotzdem stehen hier offensichtlich moderne Gebäude, erkennbar zum Beispiel, weil die Fassade auf jeden Schmuck verzichtet und nur die klaren Formen des schmalen Hauses zeigt, oder weil die oberen Geschosse nicht nur hervorragen, sondern auch leicht schräg gegeneinander versetzt sind. Das ist zumindest bei einigen Häusern sehr gelungen, den Passanten scheint es zu gefallen. Sie laufen über neu verlegtes Kopfsteinpflasterimitat, das so glatt ist, dass weder Rollstühle noch hohe Schuhe Probleme machen, und auf dem kaum ein Schnipsel liegt. Die neue Altstadt hat die Ausstrahlung einer frisch polierten Filmkulisse.
Diese Architektur ist Ausdruck des Klassenkampfes, weil sie eine bestimmte Haltung zur Geschichte ausdrückt. Im Feuilleton der FAZ verweist der Architekturprofessor Stephan Trüby darauf, dass einer der ersten Vorschläge für ein rekonstruiertes Altstadtviertel von dem ultrareaktionären Lokalpolitiker Wolfgang Hübner kam. Hübner war eine Zeitlang AfD-Mitglied, im vergangenen Jahr verteidigte er Björn Höcke gegen Kritik des Petry-Flügels. Die neue Altstadt, schreibt Trüby, habe „die Initiative eines Rechtsradikalen“ aufgegriffen und ein „aalglattes Stadtviertel“ aus „unterkomplexem Heile-Welt-Gebaue“ hervorgebracht. Im Geschichtsbild dahinter kämen „der Nationalsozialismus, die deutschen Angriffskriege und der Holocaust allenfalls noch als Anekdoten einer ansonsten bruchlosen Nationalgeschichte“ daher. Die heutige „Rekonstruktionsarchitektur“ in unserem Land sei ein „Schlüsselmedium der geschichtsrevisionistischen Rechten“.
Nur: Betonklötze abzureißen und stattdessen eine kleinteiliges Viertel mit belebten Plätzen zu bauen ist nicht unbedingt reaktionär. Gerade rechte Kräfte hatten sich in der Planung dafür ausgesprochen, hier ausschließlich historisierend zu bauen und keine modernen Gebäude zuzulassen. Die neue Altstadt ist weniger Ausdruck von Geschichtsrevisionismus als von kommerzorientiertem Stadtmarketing: Die Stadt kann damit rechnen, dass das neue Viertel Touristen anzieht. Der Klassenkampf im Städtebau dreht sich natürlich um Ideologie – aber vor allem um die Frage, wer in den neuen Häusern wie leben kann.
Die Wohnungen in der neuen Altstadt sind für bis zu 7 000 Euro pro Quadratmeter verkauft worden. Ein Aushang der Prime Estates GmbH sucht Mieter für eine Maisonette-Wohnung mit 97 Quadratmetern, Mietpreis nur auf Anfrage. Alle Wohnungen sind verkauft, an den mattglänzenden Briefkästen stehen noch keine Namen der neuen Bewohner. Mitarbeiter einer Baufirma sitzen auf Stühlen vor den Häusern, mit großen Schlüsselbunden in der Hand warten sie darauf, dass einer der neuen Eigentümer hinein will. Ein hipper Unternehmertyp im aufgeknöpften Hemd trommelt mit den Fingern in der Hosentasche und wartet darauf, dass ihm aufgeschlossen werde; durch das Schaufenster schaut er in das Haus, dessen Luxuswohnungen er vielleicht vermieten wird.
Bis die wohlsituierten Mieter und Eigentümer eingezogen sein werden, laufen vor allem Touristen durch die Gassen. Ein Leierkastenmann spielt dazu. Ein junger, schlanker Turnschuhträger klappt seinen Geigenkasten auf, nimmt die Geige aus dem Kasten und legt die Basecap darauf. Er schaut den Leierkastenmann an, bis der aufhört. Der Geiger spielt aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, eine Gruppe Passanten bleibt um ihn stehen. Der Leierkastenmann packt den klapprigen Hocker auf seinen Wagen und hinkt, auf den Wagen gestützt, in die nächste der neu-alten Gassen.