Überall auf der Welt wehte am 1. Mai 1975 neben den roten Fahnen der Arbeiterbewegung die rote Fahne mit dem gelben Stern Vietnams. „Alles auf die Straße, rot ist der Mai – alles auf die Straße, Saigon ist frei“ sangen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Mai-Kundgebungen in Dresden, Weimar und Berlin (DDR) sowie in Westberlin, Frankfurt, Karlsruhe, Essen und vielen anderen Städten. Die Nachricht, dass am 30. April 1975 morgens um 9:30 Uhr ein Panzer mit der Flagge der Befreiungsarmee das Tor des Präsidentenpalastes in Saigon niedergewalzt hatte, elektrisierte die Menschen im positiven Sinne überall auf der Welt.
Es bedeutete endgültig Frieden in Vietnam nach insgesamt 30 Jahren Krieg, zuerst gegen französische Kolonialisten und dann gegen die Imperialisten der USA und ihre Marionetten in Südvietnam.
Vietnams Kampf gegen den Kolonialismus
1885 hatte Frankreichs Regierung Vietnam vollständig als Kolonie unter seine Macht gezwungen. Das Land wurde, wie andere Kolonien auch, systematisch ausgeplündert. Widerstand wurde von den französischen Kolonialtruppen mit brachialer Gewalt niedergeschlagen. Am 2. September 1945 aber proklamierte Ho Chi Minh in Hanoi vor tausenden jubelnden Menschen die Demokratische Republik Vietnam (DRV) und die Unabhängigkeit des Landes. Die antikoloniale Befreiungsbewegung hatte die Phase unmittelbar, nachdem auch in Asien der Zweite Weltkriegs zu Ende war, genutzt, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die Hoffnung, dass nach der Niederschlagung des Faschismus vor allem Britannien die Unabhängigkeit Vietnams schützen würde, wurde jäh zunichte gemacht. Die britischen Schiffe, die 1945 in Saigon landeten, öffneten die Tür für ein neues französisches Expeditionskorps. Ab 1950 tobte ein harter Kampf gegen die französischen Kolonialisten, die mit viel Geld und Waffen aus den USA unterstützt wurden. 1954 mussten die französischen Truppen aber in Dien Bien Phu kapitulieren – frei war das vietnamesische Volk damit aber noch nicht. Die USA hintertrieben die in Genf ausgehandelten Verträge, nach denen die Vietnamesen spätestens 1956 frei über ihre Zukunft entscheiden sollten. Sie teilten Vietnam und installierten in Saigon ein Regime, das voll und ganz nach ihrer Pfeife tanzte. Im Norden blieb die Demokratische Republik Vietnam (DRV) unter Führung von Ho Chi Minh und der Kommunistischen Partei Vietnams. Die Menschen in ganz Vietnam wollten keine Teilung, sondern Unabhängigkeit (Doc Lap) und Wiedervereinigung. Der Widerstand im Süden wuchs von Monat zu Monat. Das Saigoner Regime unter Führung der USA antwortete mit Gewalt und griff schließlich militärisch ein – gegen die DRV.
Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg
Die Lüge von einem angeblichen Angriff auf den US-Zerstörer „Maddox“ musste im August 1964 für einen völkerrechtswidrigen Krieg und massive Bombenangriffe auf Vietnams Hauptstadt Hanoi herhalten. Im März 1965 begann mit einer Invasion von 3.500 amerikanischen Elitesoldaten bei Da Nang der Krieg gegen Vietnam mit Bodentruppen. Im April 1965 wurden weitere 82.000 Soldaten nach Südvietnam geschickt. Im Frühjahr 1968, auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen in Südvietnam, waren es zeitweise 550.000.
Terror gegen die Bevölkerung
Es gibt Historiker, nicht nur in den USA, die diesen Krieg als asymmetrischen Krieg bezeichnen, weil die Befreiungsfront aus dem Dschungel und dem Untergrund heraus ihren Kampf gegen die Invasoren führten. Die Asymmetrie ging allerdings von den US-Truppen aus. Sie führten einen Krieg gegen die Bevölkerung – das war nichts anderes als ein einziges Kriegsverbrechen!
Die US-Militärführung hatte dabei eine mörderische Taktik entwickelt: „Search and destroy“. Kleine und größere Gruppen von Kämpfern der Befreiungsfront sollten aufgespürt und auseinandergetrieben werden. Auseinandertreiben hieß nichts anderes als töten. Um den Erfolg der neuen Strategie unter Beweis zu stellen, mussten am Abend jedes Tages die getöteten Gegner gezählt und an das Pentagon gemeldet werden. Der sogenannte „Body count“ war der Leistungsnachweis der US-Soldaten und ihrer politischen Auftraggeber im Pentagon. Eine Unterscheidung von Kämpfern und Zivilisten wurde nicht gemacht – Vietnamesen waren Vietcong, wie die Angehörigen der Nationalen Befreiungsfront (FNL) herabsetzend bezeichnet wurden. Tausende Menschen in den Dörfern und kleinen Städten, egal ob jung oder alt, Männer, Frauen oder Kinder, verloren dabei ihr Leben. Zu einem der schrecklichsten Massaker im Kontext dieser Aktionen kam es am 16. März 1968 in dem mittelvietnamesischen Dorf My Lai. 504 unschuldige und unbewaffnete Zivilisten wurden von Soldaten der US-Armee niedergemetzelt.
Neben tausenden Massakern verübte die US-Armee durch die großflächige Versprühung von Pflanzenvertilgungsmitteln ein systematisches Kriegsverbrechen. Das berüchtigtste dieser Herbizide ist „Agent Orange“. Drei Zwecke sollten damit erreicht werden. Erstens die Entlaubung des Urwaldes, um den Kämpfern der Befreiungsfront die Deckung zu nehmen. Zweitens die Vernichtung der Nahrungsgrundlage durch das Besprühen der Reisfelder und Gemüseäcker. Drittens sollten damit die familiären und dörflichen Strukturen zerstört werden, in denen die USA-Regierung die „Brutstätten“ der Befreiungsbewegung sah. Millionen Menschen leiden auch heute noch, in der dritten Nachkriegsgeneration, unter den Folgen von „Agent Orange“. Dazu gehören unter anderem Fehlbildungen, Krebserkrankungen und Immunschwächen.
Der Pfad zum Sieg
Trotz all dieser Verbrechen gelang es den Aggressoren nicht, den Willen zu Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit der Bevölkerung Vietnams zu brechen. Am Neujahrsfest (Tet Nguyen Dan) 1968 hatten die Befreiungskräfte den US-Truppen einige harte Niederlagen zugefügt. Zusätzlich wuchs in den USA und weltweit der Protest gegen die US-Kriegsverbrechen. Die US-Regierung begann zu erkennen, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen konnte. Sie willigte in Friedensverhandlungen ein, die auf Betreiben der Befreiungsfront im November 1968 in Paris begannen. Es war die Zeit, zu der der Krieg am heftigsten tobte – und da Verhandlungen im fernen Paris. Die Führer der Befreiungsfront und der verbündeten Kräfte der DRV waren kluge Köpfe. Sie eröffneten mit den Verhandlungen eine dritte Front. Die erste Front, die militärische, war der Kampf auf dem Schlachtfeld, die zweite Front, die politische, war die Organisation der internationale Solidarität, und die dritte Front war die diplomatische Front, die der Verhandlungen mit allen am Konflikt beteiligten Gruppen. Der Verhandlungsort war wohl gewählt – Paris war in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Ort, an dem sich Intellektuelle (wie Jean Paul Sartre), Journalisten und Politiker aus aller Welt trafen. Hier konnte die Befreiungsfront ein diplomatisches Netzwerk aufbauen. Außerdem lebten in Paris tausende Vietnamesen, die größtenteils patriotisch und links orientiert waren. Sie waren eine logistische Basis und „Familie“ für die Verhandlungsdelegationen. „Es wurden die längsten Friedensverhandlungen der Geschichte“, erzählt Nguyen Thi Binh in ihrer Autobiographie. Sie nahm vom ersten bis zum letzten Tag an den fast fünf Jahre dauernden Verhandlungen teil und unterzeichnete am 27. Januar 1973 das Pariser Friedensabkommen. Die heute 93-Jährige lebt in Hanoi und ist politisch immer noch aktiv. Zu den weiteren Unterzeichnern gehörten Henry Kissinger für die USA und Le Duc Tho für die DRV.
Die USA mussten ihre Truppen abziehen, aber der Krieg dauerte an, weil die USA ihre Marionetten in Saigon weiterhin benutzten, um ihre Interessen zu wahren. Unter Bruch des Pariser Friedensabkommens überließ das Pentagon der südvietnamesischen Armee Kriegsgerät in riesigen Mengen – darunter fast 700 Flugzeuge. Außerdem verblieben rund 25.000 Ausbilder und Berater als „Zivilisten“ in Südvietnam. Auch der Terror gegen die Anhänger der Befreiungsbewegung und die Befürworter des Friedensabkommens ging weiter. Statt, wie im Abkommen vorgesehen, die Gefangenen freizulassen, wurden zehntausende weitere eingesperrt, gefoltert und getötet. Zug um Zug gelang es den Befreiungskräften aber, das ganze Land zu befreien.
Auch die Zeit danach war hart. Das Land war durch die Bomber der USA und ihre Bodentruppen zerstört. Statt der im Pariser Friedensabkommen vertraglich zugesicherten Wiederaufbauhilfe belegten die US-Regierungen bis in die 1990er Jahre Vietnam mit einem gnadenlosen Boykott, dem sich auch die Regierungen der Bundesrepublik anschlossen. Erst nach 1990 wurden die Boykottmaßnahmen auch von der BRD gelockert und schließlich aufgehoben. Völlig anders sah es in den Beziehungen der DDR zu Vietnam aus. Die Regierung und die Menschen in der DDR halfen nach dem Krieg durch umfassende Unterstützung, die Folgen des Krieges zu lindern und den Wiederaufbau zu fördern.
Unser Autor ist Stellvertretender Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam, www.fg-Vietnam.de
Buchtipp: Günter Giesenfeld,
Kontext Vietnam: Historische Feinanalysen und politische Perspektiven
Argument Verlag mit Ariadne; Hamburg 2019; 22,- Euro
Die diplomatische Front
Auf Seiten Vietnams war „der General“ an der diplomatischen Front im Vietnamkrieg eine Frau. Sie sprach leise, ruhig, aber mit großem Nachdruck. Die Welt horchte auf, als eine Frau bei den Verhandlungen die Bühne betrat. Ihr Name war Nguyen Thi Bình.
Wer war diese Frau, Jahrgang 1927, Tochter einer patriotischen Familie? Der Großvater mütterlicherseits war ein bekannter Gelehrter, Patriot und Bekannter von Ai Quoc (wie sich Ho Chi Minh als junger Revolutionär nannte). Ihr Vater, auch er ein Patriot, stand im Dienst der französischen Kolonialverwaltung im Mekong-Delta. Er und die Familie lebten auf einem Boot. Später schickten ihn die französischen Behörden nach Kambodscha. Dort studierte die junge Binh an einer französischen Schule. Sie war eine gute Schülerin, vor allem in Mathematik und Sport, und sie war, wie Vater und Großvater, eine Patriotin.
Im April 1951 verhaftete die Saigoner Verwaltung die junge Frau Sie wurde, wie Ihre Brüder, fürchterlich gefoltert. Drei Jahre musste sie in den berüchtigten Gefängnissen von Saigon verbringen. Die Zeit der Inhaftierung war aber auch eine Zeit, in der die politischen Gefangenen das Gefängnis zu einer Schule machten. Sie organisierten Stunden in chinesischer Literatur, Mathematik und Physik und in den Lehren von Marx, Lenin und Ho Chi Minh.
Nach ihrer Entlassung wurde sie von der Partei in die Pflicht genommen und Nguyen Thi Binh übernahm gefährliche und schwierige Aufträge. In den befreiten Gebieten in Südvietnam gehörte sie der „Provisorischen Revolutionären Regierung“ (PRG) an.
Als Außenministerin der PRG leitet sie dann auch die Verhandlungen mit den USA. Dies war keine leichte Arbeit, auch wenn sie nicht im Bombenhagel stattfand. Ihre Familie lebte in Hanoi. An einer Stelle in ihrer Biografie berichtet Nguyen Thi Binh über das Gefühl, in Europa die Verhandlungen zu leiten, während ihre Kinder in Vietnam waren: „Wir waren in Paris, aber wir kannten die Stellen, an denen der Feind seine Todesfracht abgeworfen hatte. Ich war außer mir vor Sorge, als ich hörte, dass der Amerikaner Hung Yen bombardiert hatte, eine Provinzhauptstadt etwa drei Kilometer von Hanoi entfernt. Dorthin waren meine Kinder evakuiert worden. Einige Tage später kam von den Genossen in Hanoi, dass meine Kinder in Sicherheit seien. Ich atmete vor Erleichterung tief durch!“
Nach dem Ende des Krieges im April 1975 trat im Juli 1976 die Nationalversammlung zusammen und beschloss die Wiedervereinigung des Landes zur Sozialistischen Republik Vietnam. Nguyen Thi Binh übernahm als Ministerin für Erziehung die komplizierte Aufgabe, zwei völlig unterschiedliche Erziehungssysteme zu vereinen.
1992 wurde sie in das Amt der Stellvertretenden Präsidentin ihres Landes berufen. Nach dem Verschwinden der sozialistischen Völkergemeinschaft musste sie das Bildungswesen erneut neu organisieren. Neben dem Gesundheits- war vor allem das Bildungswesen durch die RGW-Länder finanziert worden.
Erst im Alter von 75 Jahren zog sie sich als Repräsentantin der staatlichen Politik zurück, was aber nicht bedeutete, dass sie sich gesellschaftlich und sozial nicht mehr engagierte.