Zwischen dem, was die Regierenden tun und sich die Regierten wünschen, besteht häufig eine große Diskrepanz. So verhält es sich auch mit dem Vorhaben der Ampelkoalition zum 1. Oktober, die Verdienstobergrenze für Minijobs von 450 auf monatlich 520 Euro anzuheben. Ein Anspruch auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld ist bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen von Seiten der Koalitionäre weiterhin nicht vorgesehen. Dass dies auf wenig Gegenliebe in der Bevölkerung stößt, hat eine aktuelle DGB-Umfrage belegt, die in der vergangenen Woche vorgestellt wurde. Aus dieser geht hervor, dass eine Mehrheit von 63 Prozent der Befragten der These zustimmt, dass bereits ab dem ersten verdienten Euro die Sozialversicherung greifen sollte, was einer Abschaffung der Minijobs gleichkommen würde.
Für die Abschaffung der Minijobs gibt es gute Gründe. Sie sind keineswegs eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, sondern im Gegenteil eine Sackgasse. Besonders deutlich wird dies, wenn die Qualifikationen der Beschäftigten mit den Anforderungen ihres Arbeitsplatzes verglichen werden. Zum Stichtag 30. Juni 2021 waren in Deutschland 38,16 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig oder ausschließlich geringfügig beschäftigt. Auf Basis von Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) lassen sich die Beschäftigten nach ihren Qualifikationsniveaus einteilen und deren Tätigkeiten nach Anforderungsniveaus klassifizieren. So lässt sich ermitteln, wer über ein höheres Qualifikationsniveau verfügt, als die ausgeübte Tätigkeit erfordert.
Zum besseren Verständnis: Statistisch unterscheidet die BA drei Arten von Berufsabschlüssen: Ohne Berufsabschluss, mit anerkanntem Berufsabschluss und mit akademischem Berufsabschluss. Die Klassifikation der Berufe unterscheidet vier Niveaus. Helfertätigkeiten sind ungelernte oder Anlerntätigkeiten. Tätigkeiten für Fachkräfte erfordern eine zwei- bis dreijährige Berufsausbildung. Spezialistentätigkeiten setzen einen Meisterabschluss, den Abschluss an einer Berufsakademie oder einen Bachelorabschluss an einer Hochschule und Expertentätigkeiten einen höheren Hochschulabschluss voraus.
Auf Grundlage der oben genannten Daten wurden insgesamt 5,16 Millionen Lohnabhängige – was 13,5 Prozent entspricht – als überqualifiziert definiert. Je nach Beschäftigungsform fällt der Anteil höchst unterschiedlich aus. Unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten waren es 12,6 Prozent, bei den geringfügig Beschäftigten hingegen 27 Prozent. Mit fast zwei Millionen stellen die Minijobber allein zwei Fünftel aller Überqualifizierten, obwohl sie nur rund ein Fünftel aller Beschäftigten ausmachen. Hier sind auch diejenigen eingerechnet, die den Minijob als Nebenjob zu einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit ausüben. Doch auch unter den ausschließlich geringfügig Beschäftigten waren 900.000 von 4,36 Millionen überqualifiziert, was 20,5 Prozent entspricht.
Unterhalb des eigenen Qualifikationsniveaus zu arbeiten hat fatale Auswirkungen für die Betroffenen. Es verschlechtert langfristig die Chancen, wieder eine Stelle zu finden, die den Qualifikationen entspricht. Das gilt im besonderen Maße für ausschließlich geringfügig Beschäftigte. Die Hoffnung, über den Minijob den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden, erfüllt sich meist nicht. Stattdessen erweist sich der Minijob als Qualifikationsvernichter. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf das Gehalt. So verdienten zum Stichtag 31. Dezember 2020 sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte mit anerkanntem Berufsabschluss als Fachkräfte im Mittel 3.201 Euro im Monat, als Helfer 2.538 Euro. Akademiker, die als Experten durchschnittlich 5.881 Euro verdienen würden, erhalten als Helfer in der Regel 2.405 Euro und als Fachkräfte immerhin 4.037 Euro. Sind Kolleginnen und Kollegen im Minijob überqualifiziert, ist die Entgeltdifferenz noch größer. Aus Sicht der Beschäftigten sind dies gute Argumente, das arbeitsmarktpolitische Konstrukt Minijob endlich abzuschaffen. Die politisch Verantwortlichen werden am 1. Oktober das Gegenteil tun.