Als am 29. August 1756 preußische Truppen unter Führung Friedrichs II. in Sachsen einmarschierten, regierte in Dresden Kurfürst Friedrich August II., der als leidenschaftlicher Gemäldesammler bekannt war und wenig von den politischen Ambitionen seines Vaters „Augusts des Starken“ mit sich brachte. Folgerichtig verlief der siebenjährige Krieg für Sachsen kurz und erfolglos: Hoffnungslos unterlegen, kapitulierte am 16. Oktober die schlecht organisierte Armee bei Pirna der hart gedrillten preußischen. Nichts charakterisiert das sächsisch-preußische Verhältnis seitdem treffender als der Titel einer DDR-Fernsehserie nach dem historischen Romanzyklus des polnischen Autors Józef Ignacy Kraszewski: Während Dresden durch seine barocken Kunstschätze glänzt, erlangte Preußen durch militärische Siege politische Weltgeltung.
261 Jahre später überquert ein Berliner abermals die sächsische Grenze, um seinen Leipziger Genossen während der Buchmesse bei der Sammlung von Unterschriften für die Bundestagswahl zu helfen. Als wir uns an der Bushaltestelle treffen, interessiert er sich kaum für Sehenswürdigkeiten, sondern schmiedet Pläne. Termine und Tagesabläufe sind rasch benannt, und mir schwant in den ersten Minuten unserer Begegnung: Das wird kein entspannter Urlaub. Als ob die sächsisch-preußische Geschichte ihre Schatten voraus wirft, sitzen wir zwei Tage später am Bahnsteig der Leipziger Messe und schweigen uns an. Die Luft riecht nach Pulverdampf, und jedes Wort könnte einen Streit entfachen, der dem siebenjährigen Krieg kaum nachstehen würde. Stein des Anstoßes sind sächsische Verhältnisse, die denen vor 250 Jahren gleichen: Mangel an Material und schlechte Organisation. Während die Besucher dicht gedrängt auf das Messegelände strömen und keiner sie um Unterschriften bittet, fehlen auf dem Messe-Stand der UZ gerade einmal wieder die sächsischen Formblätter. Und es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir – statt unsere Pläne zu verwirklichen – die umständliche Fahrt zur Messe zurücklegen, um für Nachschub an Material zu sorgen.
Dabei verläuft der erste Tag unserer gemeinsamen Arbeit ertragreich. Vor einem öffentlichen Gewerkschafter-Treffen sammeln wir in kurzer Zeit einige Unterschriften und zählen am Ende einer Odyssee entlang verschiedener politischer Veranstaltungen etwas mehr als 20 ausgefüllte Formblätter. Mit einem Filmabend oder einer selbst gemachten Kartoffelsuppe erhalten wir zwischen unseren Streifzügen die sächsisch-preußische Klassenbrüderschaft, und auch indem wir uns Zeit nehmen, ab und zu getrennte Wege zu gehen.
Sachsen ist nicht Berlin: Hier ticken die Uhren langsamer, was man schon an den Rolltreppen und S-Bahn-Türen feststellen kann, und die Menschen sind konservativer als in der Hauptstadt. Sachsen diskutieren weniger, bemerkt mein Berliner Genosse, und das schweigsame Abwinken gehört zu den Erfahrungen, die man beim Ansprechen von Passanten hier zwangsläufig macht. Dennoch trifft man manchmal auf jene, die das Klemmbrett wortlos in die Hand nehmen und das Formblatt ausfüllen, als sei die Unterstützung einer kommunistischen Partei das Selbstverständlichste der Welt. Immer wieder begegnen uns die Fragen, was eine kommunistische Partei ist, welche Ziele wir als Kommunisten verfolgen oder ob unsere Kandidatur die linke Bewegung in Deutschland spalten könnte. Immer wieder erteilen wir Auskunft und diskutieren und immer wieder geben wir Flyer aus der Hand für das Versprechen, sich die Sache noch einmal in Ruhe zu überlegen.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir bei sonnigem Frühlingswetter ausgerechnet auf der „Sachsenbrücke“, wo viele Leipziger ihren Samstagnachmittag im Park am Elsterflutbett verbringen, unseren größten Sammelerfolg erleben: In einer Stunde erhalten wir 20 Unterschriften. Unsere persönliche Bilanz spricht eine deutliche Sprache über preußischen Ruhm und sächsische Gemütlichkeit: Es steht 5 zu 15 für Berlin. Mit mehr als 100 Unterschriften für Sachsen werden wir ein bewegtes und erfolgreiches Wochenende beschließen.
So bleibt vieles gleich, doch eins ist anders als vor 250 Jahren: Heute trennen wir uns nicht als Feinde in einem feudalen Krieg, sondern als Genossen, die zwar noch einiges über ihren unterschiedlichen Charakter lernen müssen, aber ein gemeinsames Ziel verfolgen, und wir freuen uns auf ein Wiedersehen.