Dr. Dimitrios Patelis ist Philosophieprofessor an der Technischen Universität Kreta. Ein Anfang April von Havemann geführtes Interview greift seine Ausführungen im Rahmen einer zwei Wochen zuvor veranstalteten Videokonferenz mit Teilnehmern marxistischer Studienkreise in Russland auf. UZ dokumentiert das Interview in gekürzter und redaktionell überarbeiteter Form.
Gudrun Havemann: Du siehst den derzeitigen Angriff auf die Ukraine nicht als ersten Akt eines möglichen, sondern als weiteres Kettenglied eines schon ausgebrochenen Krieges?
Dimitrios Patelis: Erste Akte dieses Krieges fanden ja schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und in den mit ihr verbündeten osteuropäischen Ländern statt: Der Golfkrieg endete mit der Zerstörung des Irak. Sodann folgte die Zerstörung Jugoslawiens – beide Prozesse setzen sich bis heute fort. Schon damals vertraten Spezialisten und Strategen des Imperialismus, aber auch nüchtern denkende Marxisten die Ansicht: Was bei der militärischen Zerstörung Jugoslawiens geschah, könnte als Blaupause dafür dienen, wie künftig der größte Staatsverband behandelt werden wird, der nach der Auflösung der Sowjetunion noch übrig geblieben war – also Russland selbst. Die im Jugoslawienkrieg erworbene Erfahrung schien den westlichen Strategen zu bestätigen, dass man die „ungerechtfertigte“ Existenz eines so großen Staates mit so reichen Naturschätzen nicht einfach hinnehmen müsse. Zbigniew Brzezin´ski (wie mit und nach ihm auch andere wichtige Vordenker der US-Geostrategie) hielt es für vernünftiger, die Russische Föderation mindestens in acht Staaten aufzuteilen und diese ihrer Rolle entsprechend an die euroatlantische Achse anzuschließen, was für die Entwicklung dieser Achse unabdingbar sei. Russland mit der Ukraine sei eine Supermacht, ohne Ukraine dagegen nur eine Regionalmacht, die kontrolliert, untergeordnet und aufgeteilt werden könne.
Die traditionellen Hegemonialmächte – also Nordamerika unter Führung der USA, die Europäische Union unter Führung Deutschlands und das japanisch geführte fernöstliche Machtzentrum – greifen inzwischen zu immer gewaltförmigeren Mitteln der Umverteilung ihrer Einflusssphären, aber auch der Umverteilung ihrer Kontrollmöglichkeiten über unbotmäßige Staaten oder andere politische Akteure und Bündnisse. Durch hybride Beeinflussung oder direkte militärische Einmischung streben sie danach, die Entfaltung eines alternativen Entwicklungspols auf der Erde zu vereiteln, ja überhaupt beliebige Möglichkeiten alternativer Entwicklung zu verhindern. Sie sind bestrebt, mit aller Macht die Herausbildung von Subjekten jeglicher alternativer Varianten der wirtschaftlichen, politischen, militärischen, selbst kulturellen Tätigkeiten verschiedener Länder und Völker zu blockieren.
In meinen Augen handelt es sich also bei diesem Krieg nicht um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, nicht einmal zwischen Russland und der NATO, sondern um einen beginnenden Krieg gegen den Hegemonialanspruch des alten – noch starken, aber im Abstieg befindlichen – euroatlantischen imperialistischen Machtblocks, der insbesondere in den letzten 30 Jahren der Welt seine neoliberale Ordnung aufzuzwingen vermochte.
„Im Abstieg befindlich“ ist nicht im militärischen Sinne gemeint, denn da steht bekanntlich ein gigantisches Potenzial bereit, das bis zuletzt ausgereizt werden wird, worin die große Gefahr der aktuellen Konfrontation liegt. Es ist vielmehr gemeint im Sinne des Verlustes seiner wirtschaftlichen Position im globalen Kräfteverhältnis – gegenüber dem anderen, aufsteigenden Pol.
Gudrun Havemann: Worin erkennst du einen solchen alternativen Gegenpol zu den traditionellen Hegemonialmächten?
Dimitrios Patelis: Zu ihrem alternativen Gegenpol entwickelt sich die wirtschaftlich in rasantem Tempo aufsteigende Volksrepublik China, um die herum sich eine Gruppe von Ländern und Bündnissen sammelt, die sich zunehmend der Unterordnung unter die Hegemonie der euroatlantischen Achsenmächte widersetzen. Russland rechne ich dazu.
Bis vor kurzem ging auch ich davon aus, dass China längst ein kapitalistisches Land unter vielen sei. Nach eingehenderen eigenen Recherchen zur Wirtschaft, Politik, Sozialstruktur und Kultur dieser Gesellschaft komme ich heute zu einem anderen Schluss. Obwohl in den 1990er Jahren eine beinahe wildwüchsige Umgestaltung der Wirtschaft zugelassen wurde, in deren Ergebnis die Produktionskapazitäten extensiv erweitert wurden – und zwar durch ausländische Investoren, die billige Arbeitskräfte und Rohstoffe zur Erwirtschaftung ihrer Maximalprofite ausbeuten durften, unter Anwendung roher, schmutziger Ausbeutungsformen, die im Westen bereits überwunden worden waren –, verhielt sich die chinesische Führung dennoch weitsichtig und behielt stets die wichtigsten Zügel der Wirtschaftslenkung in der Hand. Sie begriff die zentrale Bedeutung der Entwicklung der Arbeitsproduktivität als den fürs Überleben als sozialistisches Land notwendigen Schlüssel ihrer Strategie.
Im Ergebnis all dessen ist China wohl das erste große Land, das seine Rückständigkeit als koloniales Erbe der „Dritten Welt“ überwand, in historisch kurzer Zeit hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreien konnte und auf einigen Gebieten beeindruckende wissenschaftlich-technisch revolutionäre Errungenschaften vorzuweisen hat.
Gudrun Havemann: Die hiesige Wahrnehmung Chinas als rasant aufsteigender und daher tendenziell gefährlicher Global Player des Weltkapitalismus geht meist einher mit der strikten Ablehnung seines als autoritär-totalitär bezeichneten politischen Systems.
Dimitrios Patelis: Das ist nicht verwunderlich, aus meiner Sicht bedingen beide Fehldeutungen einander, entsprechen aber natürlich der üblichen, auf den bürgerlich-westlichen Horizont verengten Kritik an jeglichem Versuch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, politisch mit der Dominanz des Kapitalverhältnisses und der Abhängigkeit von ihm zu brechen. Dieser Versuch konnte – infolge des internationalen Kräfteverhältnisses – objektiv nirgends ohne diktatorische, autoritäre Elemente auskommen.
In Bezug auf China wird in der gewohnten Schwarz-Weiß-Malerei aber oft völlig unterschätzt, welche politisch viel differenzierteren Strukturen direkter und indirekter Demokratie sich inzwischen auf allen Verwaltungsebenen herausgebildet und entfaltet und die aktive politische Mitwirkung von vielen Millionen Menschen zur Voraussetzung haben – „trotz“ im Rahmen oder auch in Ausübung der so „berüchtigten“ führenden Rolle der Kommunistischen Partei Chinas. Natürlich lassen sich die anderen „Acht demokratischen Parteien und Gruppen“ (falls man sie im Westen selbst überhaupt zur Kenntnis nimmt), die Wahlen zu den Volkskongressen auf allen Ebenen, die Prozesse politischer Konsultation, die parteigelenkte Aus- und Fortbildung einer großen Schicht von Verwaltungskadern leicht diffamieren als Feigenblatt für autoritäres Durchregieren einer kleinen Führungsclique, wie es ja auch immer schon gegen alle je existierenden Volksdemokratien versucht wurde. Ob dieses Bild aber den realen Veränderungen und Entwicklungen eines sehr lebendigen und ganz offensichtlich lernfähigen Staatswesens entspricht, wage ich sehr zu bezweifeln.
Gudrun Havemann: Kommen wir zurück zu Russland: Welche besondere Rolle nimmt es in der neuen globalen Kräftekonstellation ein?
Dimitrios Patelis: Nicht erst im Zuge der Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine mit der Verkündung des „totalen Wirtschaftskriegs“ gegen Russland zwang der euroatlantische Pol Russland noch nachhaltiger in Chinas Umarmung – und umgekehrt. Beiden trat er ja schon seit Jahren immer aggressiver entgegen. Es wird dabei genau registriert, dass Russland innerhalb dieses sich herausbildenden alternativen Pols das schwächere Glied ist.
In den 30 Jahren seiner neuerlichen Herrschaft ist es dem russischen Kapital nicht gelungen, die wirtschaftliche Grundlage für eine elementare Unabhängigkeit und Souveränität des Landes zu schaffen. Schaut man sich die russische Kapitalstruktur an, die Struktur der Wirtschaftstätigkeiten, die Exportstruktur, so lässt sich erkennen, dass Russland ein Land ist, das im Wesentlichen Rohstoffe und Energieträger exportiert, nur in sehr geringem Maße auch Industriegüter. Das macht es zu einem typischen Rohstoffanhängsel des imperialistischen Weltsystems. Wo Russland Monopole ausgebildet hat, betreffen sie allein Naturressourcen, nur vier russische Monopolgruppen fallen überhaupt unter die 100 weltweit größten Global Player. Natürlich sähen sich die russischen Oligarchen selbst lieber als Akteure eines eigenständigen Wirtschaftsimperiums – das wäre nett für sie, aber wer lässt sie ein in den Klub? Wer würde es Russland denn je erlauben, statt Rohstoffanhängsel ein vollwertiger imperialistischer Mitspieler zu werden?
Russlands besondere und zutiefst widersprüchliche Rolle ergibt sich daraus, dass es eben keine imperialistische Wirtschaftsgroßmacht darstellt, sondern einen subalternen, wenn auch nicht unwichtigen Rohstofflieferanten für die Weltwirtschaft, zugleich aber von der Sowjetunion den Status einer „Superpower“ erbte, was sein militärisches Einsatzpotenzial betrifft. Russland ist eine atomar bewaffnete Streitmacht, die in der Lage wäre, nicht nur die USA, sondern den gesamten Planeten zu zerstören, ohne dass irgendeine Spur von Leben zurückbleibt.
Nun lässt sich feststellen, dass der oben skizzierte alternative Pol des globalen Kräfteverhältnisses unter Chinas Führung – ob man will oder nicht – ohne das von der Sowjetunion übernommene Militärpotenzial Russlands sehr verwundbar wäre.
Die jetzt ausgelöste militärische Konfrontation ist schon unter dieser Hinsicht keineswegs als lokale zu begreifen – es handelt sich nicht einfach nur um die Aggression eines Staates gegen einen anderen, sondern objektiv um eine grundlegende, ausgreifende Konfrontation von globaler Dimension. Wenn dieser größere Rahmen ignoriert wird, kann man die gegenwärtige Situation gar nicht adäquat erfassen.
Gudrun Havemann: Die unter den meisten Menschen verbreitete Hoffnung auf Waffenstillstand und Friedenskompromisse, damit der Krieg endlich aufhöre, scheint zurzeit nur wenige verantwortliche Akteure umzutreiben. Im Westen hat sich eine antirussische Einheitsfront gebildet, die Waffen liefert, statt Verhandlungen zu erzwingen, sie scheint so geschlossen wie nie zuvor. Die Entwicklung von Nationalismus und Militarismus, die Gefahr eines politischen Rechtsrucks wird auch in Westeuropa immer spürbarer.
Dimitrios Patelis: Diese Sorge ist völlig berechtigt. Sowohl im Ergebnis eines Sieges als auch einer Niederlage der Ukraine wird der Prozess der Faschisierung auch hier voranschreiten, weil Krieg genau das befördert – Krieg befördert Nationalismus, Hass, Feindbilder und weiteren Krieg!
Was wir jetzt sehen, ist womöglich nur ein Präludium, es betrifft das „schwache“ Glied, das „starke“ aber sind China und der gesamte sich darum bildende Block unbotmäßiger Staaten mit antikolonialen, antiimperialistischen Traditionen wie Kuba, Vietnam, Nordkorea, Laos, Iran, Nicaragua, Venezuela und Bolivien.
Man schaue sich nur das Abstimmungsverhalten in der UNO an, an dem wir erkennen können, dass es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei imperialistischen Mächten handelt. Wir schmoren in unserer EU so in unserem eigenen Saft, dass wir uns nur in der Verurteilung des Angriffskrieges durch die Mehrheit der UNO-Mitgliedsländer bestätigt fühlen – nicht aber auch die mehrheitliche Ablehnung des „totalen Wirtschaftskrieges“ gegen Russland wahrnehmen.
Wir wollen auch überhaupt nicht wahrhaben, dass wir, die wir zu den privilegierten Bevölkerungsschichten der „Goldmilliarde“ gehören, zu den Ländern der transatlantischen Achse, global gesehen in der Minderheit sind – in jeglicher Hinsicht: wirtschaftlich, sozial, demografisch. Es scheint uns nicht zu beunruhigen, dass diese Achse nicht im Geringsten daran denkt, ihren traditionellen Hegemonialanspruch aufzugeben, womöglich zurückzustecken zugunsten einer ausbalancierteren Entwicklungsweise aller Länder – eher scheint sie bereit dazu, die ganze Menschheit zu vernichten. Und deswegen gibt es diesen Krieg. Er ist nicht erst am 24. Februar ausgebrochen – und es steht zu befürchten, dass er nicht auf die jetzt betroffene Region beschränkt bleibt.