Die Russische Föderation betreibt eine Außenpolitik, „die auf die Schaffung eines stabilen und nachhaltigen Systems der internationalen Beziehungen auf der Grundlage der allgemein anerkannten völkerrechtlichen Normen und Grundsätze der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zwecks Wahrung der zuverlässigen und gleichen Sicherheit jedes Mitglieds der Weltgemeinschaft ausgerichtet ist“, heißt es in der „außenpolitischen Konzeption“. Auf dieser Grundlage strebt die russische Außenpolitik eine ausgewogene Weltordnung an, die sich auf die Wahrung des Völkerrechts und der territorialen Integrität souveräner Staaten stützt.
Die zwischenstaatlichen Gruppierungen und Abkommen sind als Bausteine einer zukünftigen Ordnung in der Welt konzipiert, wie sie von den Vereinten Nationen bereits bei ihrer Gründung im Jahre 1945 angestrebt war.
Das alte Völkerrecht erkannte die formelle Gleichberechtigung nur für die „zivilisierten“ Staaten an. Es war ein „Recht“ zur Diskriminierung der Völker, zur Rechtfertigung der imperialistischen Expansion, der Kolonialpolitik und des kolonialen und halbkolonialen Status.
Die imperialistischen Mächte versuchen heute schon wieder ihre internationale Ausbeutungs- und Diskriminierungspolitik mit höheren „Werten“, deren Höhen andere Völker erst noch erklimmen müssten, zu verdecken. Ausbeutung und Unterdrückung sollen so als humanistische Tat vermittelt werden. Alternativ zur „Wertepolitik“ baut Russland seine Außenpolitik auf folgenden Prämissen auf:
- In der Welt agieren gleichberechtigte souveräne Staaten als unangefochtene Subjekte des internationalen Rechts.
- Deren Beziehungen regelt die UNO auf der Grundlage des Völkerrechts, das von allen Staaten, unabhängig von ihrer Größe und ihrem Einfluss, eingehalten werden muss. Das internationale Rechtssystem soll weiter ausgebaut und gestärkt werden.
- Die Staaten können sich in Bündnissen und Integrationsprojekten organisieren, es dürfen jedoch keine Blockbildungen stattfinden.
- Es gilt das gleiche Recht aller auf Sicherheit. Daher ist Russland an einer umfassenden, inklusiven Sicherheitsarchitektur interessiert. Es gilt das Prinzip „mit“ statt „gegen“:
Das Prinzip der Nichteinmischung hat nach wie vor die oberste Priorität. Das Prinzip der Schutzverantwortung, auf dessen Grundlage die westlichen Staaten zum Beispiel in Libyen interveniert haben, weist Russland entschieden zurück.
Es gilt nach wie vor die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam.
Der Kampf gegen den Terrorismus genießt oberste Priorität.
Die Charta der Vereinten Nationen soll eine neue Relevanz erhalten. Dem entsprechend kann der Frieden zwischen mehreren Akteuren nur kooperativ und nicht durch unkontrollierten Machterwerb gesichert werden. Friedenssicherung bedeutet die Durchsetzung des zwischenstaatlichen Gewaltverzichts. Die Charta beschränkt sich aber nicht nur auf das Verbot eines Angriffskrieges, sondern verbietet auch die Gewaltandrohung und Gewaltanwendung, die „gegen die territoriale Unverletzlichkeit oder politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet oder in irgendeiner anderen Weise mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar ist“. (Art. 2, Punkt 4 UNO-Charta)
Der international oft gebrauchte Begriff „multipolar“ wird in dem außenpolitischen Strategiepapier Russlands nicht mehr verwendet. Stattdessen wird die Weltordnung, die sich zunehmend abzeichne, als „polyzentral“ charakterisiert. Russland favorisiert flexibel untereinander agierende, sich überschneidende regionale und überregionale Zentren und Staatenbündnisse, die das auf Dominanz und Willkür basierende Modell der unipolaren Weltordnung endgültig überwinden. Es will aktiv an der Schaffung einer „gerechten und stabilen Weltordnung“ mit einem von allen akzeptierten Regulierungsinstrument in Form der UNO mitarbeiten.
Schaffung einer inklusiven Sicherheitsarchitektur
In seiner außenpolitischen Grundorientierung verweist Russland darauf, dass es sich „seiner besonderen Verantwortung für die Wahrung der Sicherheit weltweit sowohl auf der globalen als auch auf der regionalen Ebene bewusst und auf gemeinsames Vorgehen mit allen interessierten Staaten im Interesse der Lösung gemeinsamer Aufgaben ausgerichtet ist“.
a) Internationale Sicherheit
Im Mittelpunkt der Bemühungen um die internationale Sicherheit stellt Russland die Erhöhung der Rolle der UNO. Die Vergangenheit habe bewiesen, dass die UNO alternativlos ist. In der Verwirklichung ihrer Rolle bei der Regelung der internationalen Beziehungen wird eine zentrale Aufgabe gesehen. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass sich Russland besonders um die „Festigung ihrer zentralen Koordinierungsrolle“ bemühen will. Das setze voraus, „die Unerschütterlichkeit der zentralen Punkte und Grundsätze der UNO-Charta“ zu gewährleisten, „die u. a. auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und auf die Schritte zurückzuführen sind, die während des Zweiten Weltkrieges von den für diese Schritte zuständigen Regierungen unternommen oder legitimiert worden sind“. Das Potenzial der UNO müsse umfassend gefestigt werden, um sie an die Gegebenheiten der Welt anzupassen und um ihre zwischenstaatliche Natur aufrechtzuerhalten.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Tätigkeit des Sicherheitsrates. Nach Auffassung Russlands trägt der Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Russland stimmt auch dem Standpunkt zu, dass „dieses Gremium im Zuge einer vernünftigen Reformierung der UNO repräsentativer gemacht werden muss, wobei es seine Tätigkeit in gebührender Weise operativ ausüben muss“. Entscheidungen über die Schaffung von zusätzlichen Sitzen im Sicherheitsrat müssen mit der „umfassendsten Zustimmung der UN-Mitgliedstaaten“ getroffen werden. Russland besteht auch weiterhin darauf, dass der Status der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates erhalten bleibt.
b. Regionale Sicherheitssysteme
Auch in seinen Aktivitäten im regionalen Bereich geht Russland von „seiner besonderen Verantwortung für die Wahrung der Sicherheit weltweit, sowohl auf globaler als auch auf regionaler Ebene“ aus.
Dem Problemkreis der Europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit wird eine zentrale Bedeutung beigemessen. Sie wird aber als zentrales Problem im weltweiten Zusammenhang gesehen und behandelt. Es ist „perspektivlos, Stabilität und Sicherheit in einem einzelnen Gebiet zu wahren. An besonderer Bedeutung gewinnt die Einhaltung des Prinzips einer gleichen und unteilbaren Sicherheit im euroatlantischen, eurasischen, asiatisch-pazifischen Raum und in anderen Regionen“. Gefragt sei Netzwerkdiplomatie, die flexible Teilnahme an multilateralen Formaten zum Zwecke der Suche nach der Lösung gemeinsamer Aufgaben.
In diesem Sinne baut Russland auch sein „Zusammenwirken mit den Partnern im Rahmen der G-20, BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), SOZ (Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, RIC (Russland, Indien, China), sowie im Rahmen anderer Projekte (wozu auch das „Seidenstraße“-Projekt gehört), Organisationen und Diskussionsforen aus.
Zu den prioritären Vorhaben der russischen Politik gehört aber die bi- und multilaterale Kooperation mit den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und eine weitere Festigung der Integrationsvereinigungen im GUS-Raum unter Beteiligung Russlands.
Die EAWU (Eurasische Wirtschaftsunion) mit Armenien, Weißrussland, Kasachstan und Kirgisien kann nach Auffassung Russlands eine wichtige Rolle bei der Harmonisierung von Integrationsprozessen in der europäischen und eurasischen Region spielen.
Als eines der wichtigsten Elemente des Sicherheitssystems im postsowjetischen Raum betrachtet Russland die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), zu dem Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan, Weißrussland gehören. Seit 2013 sind Afghanistan und Serbien Beobachter.
Europäische Sicherheit
Die Politik Russlands „im Euroatlantischen Raum ist langfristig auf die Gestaltung eines gemeinsamen Friedens-, Sicherheits- und Stabilitätsraumes ausgerichtet, der sich auf die Prinzipien der unteilbaren Sicherheit, der gleichberechtigten Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens stützt“.
Im vorangegangenen Vierteljahrhundert haben sich aber – laut russischer Position – Probleme angesammelt, die
- „sich in der geopolitischen Expansion der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) und der Europäischen Union (EU) widerspiegelten“ und
- „mit dem Unwillen einhergingen, die Umsetzung politischer Bestimmungen zur Bildung eines gesamteuropäischen Sicherheits- und Kooperationssystems in Angriff zu nehmen“.
- Dies verursachte eine „gravierende Krise in den Beziehungen zwischen Russland und den westlichen Staaten“.
Russland schätzt in seiner außenpolitischen Konzeption ein: „Der von den USA und ihren Verbündeten eingeschlagene Kurs auf die Eindämmung Russlands und politischer, wirtschaftlicher und Informationsdruck auf Russland erschüttern die regionale und globale Stabilität, schaden den langfristigen Interessen aller Seiten und widersprechen dem zurzeit wachsenden Bedarf an Kooperation und Bekämpfung grenzüberschreitender Herausforderungen und Bedrohungen.“
Davon ausgehend lehnt Russland den Standpunkt der Großmächte der EU und der NATO ab, wonach jegliches Sicherheitssystem nur auf zwei Säulen, auf der Grundlage der NATO und der EU, aufgebaut werden könne. Russland plädiert für gesamteuropäische Institutionen. Es will in den zu schaffenden Institutionen gleiches Recht eingeräumt haben. In den 1990er Jahren befürwortete Russland noch den Ausbau der OSZE. Nachdem diese aber von den kapitalistischen Mächten einseitig auf die „humanitäre“ Dimension reduziert und missbraucht wurde, verlor Russland zunehmend das Interesse an der OSZE, ohne jedoch einen Rückzug in Erwägung zu ziehen.
Seit 2008 fordert Russland den Abschluss eines völkerrechtlich bindenden Vertrages, dem sich alle Staaten und internationalen Organisationen anschließen sollten. Er soll auf dem Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ beruhen. Ein wichtiger Grund für diesen Standpunkt dürften die Erfahrungen sein, die Russland und die anderen Staaten mit der Politik der ökonomischen, politischen und militärischen Expansion und mit der Einrichtung militärischer Stützpunkte der USA in den ehemaligen Warschauer-Vertrags-Staaten rund um Russland machen mussten und noch machen müssen.
Dem Kurs der Großmächte der NATO und der EU setzt Russland konstruktive Vorschläge entgegen. Am 5. Mai 2008 wurde vom damaligen russischen Präsidenten in Berlin ein Dialog zu Grundfragen der europäischen Sicherheit angestoßen und der russische Vorschlag für einen Vertrag für europäische Sicherheit unterbreitet, der im Rahmen der OSZE und auf bilateraler Ebene erörtert werden sollte. Dazu wurde er auch anderen Sicherheitsorganisationen im euro-atlantischen Raum übergeben. Er wurde aber von den Hauptmächten der EU – und Deutschland marschierte vorneweg – und von den USA abgelehnt.
Der russische Außenminister Sergei Lawrow präzisierte in seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung am 27. September 2008, dass es Russland dabei um die Bekräftigung der grundlegenden Völkerrechtsprinzipien wie Gewaltverzicht, friedliche Konfliktregelung, Achtung der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten, um die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die Unteilbarkeit der Sicherheit sowie die Unzulässigkeit, die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten zu gewährleisten, geht. Man müsse sich Gedanken darüber machen, welche Mechanismen entwickelt werden müssen, um eine effektivere Umsetzung der Prinzipien zu gewährleisten. Vor allem darauf bezogen sich die genannten Vorschläge.
Die Dringlichkeit ihrer Verwirklichung wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, welche Ereignisse die Wirklichkeit charakterisiert haben und noch charakterisieren. Nach der Pariser Charta (21.11.1990), die auf der Melodie des Antikommunismus, des Antisozialismus und Antisowjetismus das Ende des „Zeitalters der Konfrontation und der Teilung Europas“ und das Himmelreich der „blühenden Gärten“ verkündete, folgte in der Wirklichkeit die Zerschlagung der Sowjetunion, danach die Ausdehnung der NATO auf das Territorium des ehemaligen Warschauer Vertrages, die Expansion der EU in die ehemals sozialistischen Staaten durch die EU-Politik der Östlichen Nachbarschaft, die Aufnahme der europäischen RGW-Staaten in die EU in zwei Schritten (2004 und 2007), die Aggression gegen Jugoslawien und die Zerschlagung dieses Staates zwecks weiterem Ausbau der Kontrolle und der Herrschaft der EU und NATO auch über dieses Gebiet, die Expansion in die baltischen Staaten, die Ausnutzung der Konflikte in Moldawien, zwischen Aserbaidschan und Armenien sowie der Lage in Georgien durch die imperialistischen Mächte und ihre Bündnisse.
Russland wartet bis heute, dass – wie Außenminister Lawrow unlängst in Berlin formulierte – die EU ihre Politik gegenüber Russland „aufgrund des Interessenausgleichs und nicht der Meinung der russophoben Minderheit“ betreibt. Präsident Putin erklärte, Russland habe gelernt, seine nationalen Interessen deutlich zu machen. „Wir haben gelernt, sie (die Interessen – A. L.) entschieden durchzusetzen, indem wir uns unter anderem auf unsere historische Erfahrung gestützt haben.“