In diesen Tagen trifft das von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann herausgegebene Buch „Ein willkommener Krieg?“ in den Buchhandlungen ein. Zahlreiche Autorinnen und Autoren aus der Friedensbewegung beschäftigen sich darin mit den Ursachen, Zusammenhängen und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. Mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag drucken wir den Beitrag von Sevim Dagdelen – leicht gekürzt – nach.
Der NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022 ist in jeder Hinsicht eine Zäsur. Zum ersten Mal wird Russland im neuen Strategischen Konzept der NATO als Feindstaat, als die „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum“ bezeichnet. Und von der Volksrepublik China gingen „systemische Herausforderungen für die euroatlantische Sicherheit“ aus. In Europa werden zusätzliche NATO-Erweiterungen ins Visier genommen, explizit um die Ukraine, Georgien und Bosnien-Herzegowina.
Zugleich will sich die NATO nicht auf den euroatlantischen Raum begrenzen, in den Vordergrund rückt der Einsatz im Indopazifik. Denn als besondere Bedrohung gilt der NATO eine „immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation“. Nicht zuletzt deshalb wird der erbarmungslose Wirtschaftskrieg mit immer härteren Sanktionen gegen Moskau geführt. Hierzu bedient sich die US-geführte NATO der EU, die als „einzigartiger und unentbehrlicher Partner für die NATO“ gekennzeichnet wird. Laut Strategischem Konzept der NATO sollen europäische NATO-Partner, die nicht in der EU sind, wie etwa die Türkei, voll in die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einbezogen werden. Die EU als Ganzes soll als Wirtschafts-NATO fungieren und deren strategische Ziele mit entsprechender Sanktionspolitik unterstützen.
Das große Problem für die EU-Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschland ist dabei allerdings, dass sie mit ihrem Wirtschaftskrieg nicht „Russland ruinieren“ (Annalena Baerbock), sondern vor allem Millionen Menschen in Europa.
Im Grunde steht durch die Auseinandersetzung mit Russland das gesamte deutsche Produktionsmodell, das auf relativ preiswerten und langfristig sicheren Energielieferungen basiert, zur Disposition. Verantwortlich dafür ist allerdings nicht Moskau, wie die Bundesregierung gerne weismachen möchte, sondern die Ampel-Koalition, die Millionen Menschen hierzulande wirtschaftlich zugrunde richtet und gerade die Ärmsten dazu verpflichten möchte, ihren Beitrag zu leisten, um einen vermeintlichen Sieg gegen Russland erringen zu können. Durch die Sanktionspolitik ist bereits jetzt der deutsche Exportüberschuss dahin und der Euro stürzt gegenüber dem US-Dollar ab, sodass sich die Energierechnungen weiter verteuern. Während aber Millionen Menschen in Deutschland und Europa der soziale Ruin ins Haus steht, hat Russland durch die höheren Energiepreise auch bei etwa einem Drittel weniger Energielieferungen in die EU ein Drittel mehr verdient.
Während Indien, China und weitere asiatische Staaten verstärkt russische Energie teilweise zu einem Abschlagspreis importieren, muss die EU auf teureres und klimaschädlicheres Fracking-Gas aus den USA setzen, wofür zudem die Infrastruktur noch nicht bereit ist. Und statt 100 Milliarden Euro in Energiesicherheit zu investieren, setzt gerade die Bundesregierung auf eine beispiellose Aufrüstung mit einem 100-Milliarden-Sonderschuldenpaket zugunsten vor allem deutscher Rüstungsschmieden wie auch eine permanente Erhöhung der deutschen Militärausgaben auf über 70 Milliarden Euro im Jahr.
Zugleich führt die NATO nunmehr offen einen „Proxy War“, einen Stellvertreterkrieg, in der Ukraine gegen Russland. Mit massiven Waffenlieferungen aus den NATO-Staaten wie auch materieller Unterstützung und üppigen Finanzhilfen für Kiew soll der Sieg gegen Russland erreicht werden.
Dabei zielt der Versuch, Russland mit einem globalen Wirtschaftskrieg und einem Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu schlagen und zu ruinieren, nicht nur auf Russland selbst, sondern in letzter Instanz auf den neuen Hauptfeind China. Ist Russland einmal aus der Allianz mit China herausgebrochen, wird sich Peking kaum mehr im Indopazifik behaupten können, so das Machtkalkül der NATO.
Abnutzungskrieg gegen Russland
Es geht der NATO offenbar nicht um irgendeine Art von Verständigung und Frieden zwischen der Ukraine und Russland, sondern darum, einen Verständigungsfrieden zu torpedieren. Der Krieg in der Ukraine soll als Abnutzungskrieg Russland in die Knie zwingen und offenbar zynisch bis zum letzten ukrainischen Soldaten geführt werden. Waffen, Waffen, immer mehr Waffen, so das Mantra. Russland müsse militärisch besiegt werden. Diese Strategie ist aus zwei Gründen töricht und unverantwortlich:
Erstens wird die Atommacht Russland kaum bereit sein, in einem Konflikt, den sie aus ihrer Sicht aus existenziellen Sicherheitsinteressen führt, aufzugeben, bevor dieses Ziel erreicht ist. Mit jedem Tag und jeder weiteren Waffenlieferung steigt daher die Gefahr der Ausweitung des Krieges bis hin zum Dritten Weltkrieg und der atomaren Zerstörung Europas.
Zweitens ist es zynisch, die Ukraine in einen langwierigen Stellvertreterkrieg zu schicken und die Menschen dort für eigene geopolitische Interessen auf dem Schlachtfeld zu opfern.
Dass die Chancen auf einen Waffenstillstand und eine diplomatische Einigung schon einmal wesentlich besser standen, daran scheint sich angesichts der medialen Dauermobilmachung kaum jemand mehr zu erinnern. Dabei ist ein Blick zurück durchaus aufschlussreich.
Chancen und Hindernisse für eine Verhandlungslösung
Nach den Gesprächen in Istanbul zwischen ukrainischen und russischen Vertretern Ende März 2022 haben zahlreiche Medien über steigende Chancen für eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg berichtet. Laut „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) gab es in der türkischen Metropole „offenbar eine große Annäherung“. Unter Verweis auf die britische „Financial Times“ meldete das RND am 29. März, dass beide Seiten in einem vielversprechenden Entwurf eines Waffenstillstandsdokuments wichtige Zugeständnisse gemacht hätten: Russland habe demnach auf einen Sturz der Regierung verzichtet, während sich die Ukraine offen gezeigt habe, einen neutralen Status des Landes sowie Verhandlungen über die Zukunft der Krim zu akzeptieren.
Am 5. April berichtete die „Washington Post“, dass in der NATO die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: „Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben, als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.“
Der Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson bei Präsident Wladimir Selenski in Kiew am 9. April war laut ukrainischen Presseberichten neben den Berichten über Kriegsverbrechen in Butscha das maßgebliche „Hindernis“ für die Fortführung von Verhandlungen mit Russland. Laut britischem „Guardian“ vom 28. April hat Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenski „angewiesen“, „keine Zugeständnisse an Putin zu machen“.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt. Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: „Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen.“
Russland „über Jahre“ schwächen
Nach seinem Kiew-Besuch am 25. April erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland im Zuge des Ukraine-Krieges auf Dauer militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Laut „New York Times“ geht es der US-Regierung nicht mehr um einen Kampf um die Kontrolle der Ukraine, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges.
Bei dem von Austin einberufenen Treffen von Verteidigungsministern der NATO-Mitglieder und weiterer Staaten in Ramstein in Rheinland-Pfalz am 26. April legte der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel fest.
Die Bundesregierung gab ihre ablehnende Position bezüglich Panzerlieferungen in die Ukraine auf, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sagte in Ramstein die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu, angefangen mit Flugabwehrpanzern vom Typ Gepard. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtete am 27. April über einen Strategiewechsel der US-Administration, der laut US-Präsident Joseph Biden darin besteht, Russland „über Jahre“ zu schwächen.
Der frühere Bundesminister und Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, machte in der ARD-Sendung „Maischberger“ am 12. Mai insbesondere die USA für den Krieg in der Ukraine mitverantwortlich. Es sei zum Krieg gekommen, „weil der Westen nicht bereit war, über die einzige wichtige Frage für Russland und Putin auch nur zu verhandeln“: die Frage nach der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. US-Präsident Biden habe Verhandlungen darüber stets abgelehnt.
„Grundlagen für einen Frieden“
Der US-amerikanische Starökonom und UN-Sonderberater Jeffrey Sachs warnte bereits am 1. April im Interview mit der „Welt“ vor der US-Strategie, die auf einen jahrelangen Stellvertreterkrieg in der Ukraine mit Tausenden von Toten hinauslaufe. Auf die Frage, ob Energiesanktionen die richtigen Maßnahmen seien, Wladimir Putin zum Einlenken zu bewegen und den Ukraine-Krieg zu beenden, antwortete Sachs: „Was den Ukraine-Krieg beenden könnte, sind die Angebote, die Präsident Wladimir Selenski Russland vor den Verhandlungen in Ankara (…) gemacht hat. Eine neutrale Ukraine, Autonomie für den Donbass und die Bereitschaft, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden; das sind Grundlagen für einen Frieden. Die Europäische Kommission, Deutschland und die anderen EU-Länder sollten sich jetzt darauf konzentrieren, eine schnelle Verhandlungslösung zu fördern. Es wird ständig über Sanktionen oder militärische Hilfen geredet, aber nicht genug darüber, wie eine Verhandlungslösung aussehen könnte.“
Diffamierungen als Teil der Kriegspropaganda
Wer sich aber für eine Verhandlungslösung und einen sofortigen Stopp des Wirtschaftskrieges gegen Russland sowie des Stellvertreterkrieges ausspricht, der wird öffentlich als Putin-Unterstützer diffamiert. Diese Diffamierung aller Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner ist Teil einer immer heftiger werdenden Kriegspropaganda, an der sich sowohl die Regierungsparteien als auch die großen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien beteiligen. Die Erzeugung eines inneren Militarismus soll den äußeren Militarismus begleiten, um Zustimmung zu dieser ökonomischen Selbstamputation zu erzeugen und jeden Widerstand gegen die wachsende Weltkriegsgefahr im Keim zu ersticken.
Das Problem der Kriegsparteien im Bundestag ist, dass dieser Krieg zum ersten Mal Millionen Menschen direkt trifft und eine weitere Kriegsbeteiligung nichts anderes als eine Verelendung von Millionen Menschen hierzulande bedeutet, während die Reichen immer reicher werden und die Aktionäre der deutschen Rüstungskonzerne die Champagnerkorken knallen lassen.
Kriegsmüdigkeit ist kein Makel, sondern eine moralische Pflicht aus wohlverstandenem Eigeninteresse, für die Kriegsbesoffenheit der deutschen „Eliten“ nicht seine Existenz aufs Spiel zu setzen.
Wolfgang Gehrcke / Christiane Reymann (Hrsg.):
Ein willkommener Krieg?
NATO, Russland und die Ukraine
PapyRossa Verlag Köln 2022
231 Seiten, 14,90 Euro
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