Narwa ist die russischste Stadt der NATO und der EU. 95 Prozent der rund 57.000 Einwohner sprechen vor allem Russisch, von der östlichsten Stadt Estlands sind es 160 Kilometer bis St. Petersburg. Mit der Unabhängigkeit zogen 1990 westliche Werte ein in das Land mit damals knapp 1,6 Millionen Einwohnern (heute noch 1,3 Millionen), darunter die Erteilung der Staatsbürgerschaft nach Blut und Boden. Wer nicht vor der „Besatzung“ durch die Sowjetunion 1940 in der ersten Republik gelebt hatte – die deutsch-faschistische Besatzung wird in allen drei baltischen Republiken als vernachlässigenswert behandelt oder wie im lettischen Riga an jedem 16. März mit einem Aufmarsch zu Ehren der eigenen SS-Veteranen gefeiert –, erhielt keinen estnischen Pass. Das betrifft zwar mehr als 300.000 Menschen und es widerspricht den 1993 von der EU beschlossenen „Kopenhagener Kriterien“ für Beitrittskandidaten, die Minderheitenschutz vorsehen. Die Aufnahme Estlands in die Kriteriengemeinschaft am 1. Mai vor 20 Jahren verhinderte das nicht. Können Russen überhaupt eine Minderheit sein?
Die Antwort in den baltischen Republiken und deren wirklicher Hauptstadt Washington ist Nein. Eine russischsprachige Stadt ist daher in einem Land, in dem das Innenministerium laut dem estnischen Nachrichtenportal „Newsmaker“ gerade darüber nachdenkt, das Moskauer Patriarchat zur terroristischen Vereinigung zu erklären, eine Bedrohung. Also verkündet der „Deutschlandfunk“ am 22. Mai: „Weg mit dem Sowjeterbe: Estland schafft Russisch-Unterricht ab“. Wer Russisch redet, ist Sowjetist, Bolschewik, jedenfalls ostisch. Auf jeden Fall Putin-Versteher, was ja formal stimmt, auch wenn er die Politik des russischen Präsidenten nicht schätzt.
Höchste Not. In Lettland wird die „Remigration“ bereits vollzogen. Das estnische Parlament beschloss vorerst im Dezember 2022: Ab 2029 soll in estnischen Kindergärten und Schulen nicht mehr Russisch gesprochen werden. Das ist vergleichsweise human: Die in Kiew Regierenden beschießen und bombardieren seit 2014 die Gebiete der für „Remigration“ vorgesehenen Landsleute. Die estnische Ministerpräsidentin und Investmentbanker-Gattin Kaja Kallas sprach im März im „Deutschlandfunk“ aus, worum es sich dabei in Wahrheit handelt: „Russland führt einen Schattenkrieg gegen uns alle.“ Immerhin lässt sie Narwa nicht bombardieren.
Weil es aber bis 2029 noch lange hin ist, erklärte Kallas Russisch sprechenden Kleinkindern den Schattenkrieg: Bereits ab 1. August soll in Narwa in den Vorschulen sowie den ersten bis vierten Klassen nur noch auf Estnisch unterrichtet werden.
In der Stadt bedeutet das nach Schätzungen verschiedener Medien für rund 150 Lehrkräfte die Entlassung. Bislang erhielten sie schon amtliche Drohbriefe, sollten sie nicht Sprachprüfungen mit Zertifikat ablegen. Weil selbst der Bankergattin Kallas dämmerte, dass am 1. August eventuell nicht genügend Estnisch sprechende Lehrer in Narwa sein könnten, stellte man Zuzüglern bis zu 3.000 Euro Gehalt in Aussicht, ungefähr das 1,5-Fache der üblichen Lehrerentlohnung. Die Schweizer Journalistin Hannah Krug schilderte das ausführlich am 7. Mai auf „Zeit.online“ und nannte die Folgen „verheerend“: Wer gegen das Sprachengesetz verstoße, zahle bis zu 9.600 Euro Strafe. Ältere Lehrer flüchten demnach in den Ruhestand, Jüngere versuchen sich durchzubeißen, andere wechseln den Beruf.
Schlussfolgerung: Der EU-Minderheitenschutz wirkt – durch Sprachverbot. Ansonsten herrschen Frieden und Freude: In der estnischen EU-Kulturhauptstadt 2024 Tartu werden in dieser Woche laut Eigenwerbung „die bekanntesten Lieder des Eurovision Song Contest“ vorgetragen, „während Sie die Botschaft der Liebe während eines gigantischen öffentlichen Küssens verbreiten!“. Laut Krug hat „Kissing Tartu“ die Umstellung seiner zwei russischsprachigen Schulen und drei Kindergärten auf Estnisch bereits für 2025 angeordnet. Der Liebe wegen.