In Deutschland erlassen Amtsrichter im Jahr um die 580.000 Strafbefehle. Mehr als drei Viertel aller Strafverfahren vor Amtsgerichten werden auf diese Weise abgeschlossen. Meist geht es um Kleinkriminalität: Ladendiebstahl, Schwarzfahren, Beleidigung oder Trunkenheitsfahrten. Das Strafbefehlsverfahren ist ein Massengeschäft, ohne Beweisaufnahme, ohne Hauptverhandlung, aber für den Angeschuldigten immer mit Strafe verbunden. Die Richter urteilen nach Lage der Akten und aufgrund des Vorschlags des Staatsanwalts. Nur höchst selten geht es um Sachverhalte, bei denen der Richter das Gesetz nochmals zur Hand nehmen muss, weil es sich um ein Delikt handelt, dessen Einzelheiten nicht zum täglichen Pensum gehören.
So wird auch Richter Pollmann vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten, der am 3. Januar den Strafbefehl gegen den Friedensaktivisten Heinrich Bücker unterschrieb, den Wortlaut des Paragrafen 140 Absatz 2 Strafgesetzbuch (StGB) „Belohnung und Billigung von Straftaten“ aus der Abteilung „Politisches Strafrecht“ nachgelesen haben. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, „wer eine der in Paragraf 138 Absatz 1 Nummer 2 bis 4 und 5 letzte Alternative (…) genannten rechtswidrigen Taten (…) in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (Paragraf 11 Absatz 3) billigt“. Wie viele Straftatbestände arbeitet der Paragraf mit der Verweisung auf andere Normen, so dass sein Inhalt erst verständlich wird, wenn man dort nachschlägt. In Paragraf 138 StGB geht es um die politisch motivierten Delikte Hochverrat, Landesverrat und Verbrechen der Aggression. Was unter Letzteres fällt, findet sich im Völkerstrafgesetzbuch: Angriffskriege wie auch sonstige Angriffshandlungen (die bereits geführt werden) und solche, durch die „die Gefahr eines Angriffskrieges oder einer sonstigen Angriffshandlung“ erst herbeigeführt wird (die also noch bevorstehen).
Hervorzuheben ist, dass die Norm auf jede (auch kommende) kriegerische Auseinandersetzung irgendwo auf der Welt bezogen ist. Was das für die Anwendung deutschen Strafrechts auf bereits schwelende oder bevorstehende internationale Konflikte (Beispiel: China – Taiwan) bedeutet, lässt sich erahnen. Abgerundet wird der Tatbestand durch den Verweis auf Paragraf 11 Absatz 3 StGB: Es geht nicht nur um das öffentlich gesprochene Wort, sondern auch um solche Inhalte, die sich in „Schriften, Ton- oder Bildträgern, in Datenspeichern, Abbildungen oder anderen Verkörperungen“ finden. Somit wird auch derjenige strafrechtlich verfolgt, der zum Beispiel auf Facebook ein Foto oder Video postet, das den „Unrechtsgehalt“ der russischen Militäraktion in der Ukraine „relativiert“. In den Jahren vor 2022 zählte die Kriminalstatistik für Deutschland zwischen 10 und 15 Fälle pro Jahr. Angesichts der 10.113 in 2021 gegen „Politisch motivierte Kriminalität – Links“ (BKA-Jargon) geführten Verfahren eine verschwindend geringe Anzahl. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges erlebte Paragraf 140 StGB seine Renaissance. Allein bis Juni 2022 wurden etwa 150 Ermittlungsverfahren neu eingeleitet. Meist geht es um Symbole: Ein Feuerwehrmann aus Kempten (Allgäu) postete auf seiner Facebook-Seite ein „Z“ – Ermittlungsverfahren wegen „Billigen eines Angriffskrieges“. Ein Hamburger Autofahrer, der ein weißes DIN-A4-Blatt mit einem blauen „Z“ im Heckfenster platziert hatte, wurde zu einer Geldstrafe von 4.000 Euro verurteilt.
Absurd, aber real sind die Verbote, die Sowjetflagge öffentlich zu zeigen (zum Beispiel im Erlass des früheren niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius zu den Ostermärschen). Wie der juristischen Fachpresse zu entnehmen ist, wird in den Innenministerien auch geprüft, ob das Skandieren von „Rossija, Rossija“ oder die Behauptung, die Ukraine „müsse entnazifiziert werden“, den Tatbestand des Paragrafen 140 Absatz 2 StGB erfüllt. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 proklamierte Zeitenwende hat auch das politische Strafrecht wieder belebt und gleichzeitig Beweis für die Instrumentalisierung des Rechts erbracht. Inzwischen existiert ein breiter Kanon von Strafvorschriften, der bundesweit gezielt gegen Friedensaktivisten eingesetzt wird. Letzter Höhepunkt der Wiederbelebung des Gesinnungsstrafrechts war die Einführung des Paragrafen 130 Absatz 5 StGB, der das „Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ unter Strafe stellt. Ganz gezielt sollen all jene, die die kriegstreiberische Waffenekstase zur „Verteidigung unserer Werte“ am Frontverlauf in der Ukraine nicht mitzumachen bereit sind, in die gleiche Unrechtskategorie einsortiert werden wie die Leugner des Holocausts (Paragraf 130 Absatz 3 StGB).
Wer die aggressive Einkreisungspolitik der NATO gegenüber Russland als kriegsursächlich benennt, wer Zweifel daran hegt, dass die Hungersnot in der Ukraine 1932 geplant von der Sowjetregierung in Gang gesetzt worden sei, gehört zum Kreis der Verdächtigen. In dem vom früheren Bundesrichter Thomas Fischer verfassten Standardkommentar zum Strafgesetzbuch, der seit Jahrzehnten zum Inventar deutscher Amtsrichterstuben gehört, heißt es in der Einleitung zu Paragraf 140: „Der Tatbestand demonstriert, auch in seiner praktischen Handhabung, im Ergebnis wohl eher die Vertrauenskrise des Rechtsstaats als dessen Stärke.“ Das spricht für sich.