Im Dezember 2023 stürzte die Decke eines Hörsaals der Universität Marburg ein. Kaum ein Jahr später brach in Dresden die Carolabrücke zusammen. Dies sind nur zwei besonders krasse Beispiele für eine marode und unter den Zwängen der Schuldenbremse kaputtgesparten Infrastruktur. Dennoch war die Aufregung unter den „Haushaltsexperten“ von Union und FDP groß, als CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz im TV-Duell mit Olaf Scholz erklärte, dass man „über eine Reform der Schuldenbremse diskutieren könne“, etwa zur Finanzierung steigender Rüstungsausgaben, wie Scholz in der Debatte bereits vorgeschlagen hatte.
Trotz der weitgehend übereinstimmenden Positionen zwischen Kanzler und Herausforderer zur Aufrüstung kam das Dementi eines generellen Richtungswechsels in der Finanzpolitik – insbesondere, wenn damit Zukunftsinvestitionen und der Erhalt der sozialen Infrastruktur gemeint sind – umgehend: „Eine Lockerung der Schuldenbremse ist für die Bundes-CDU und die Unionsfraktion kein Thema“, so der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Haushalt in der Unionsfraktion Christian Haase in der Tageszeitung „Welt“. Er warnte davor, eine Diskussion über die Schuldenbremse anzufangen. „Wenn wir in der Frage die Tür einen Spalt aufmachen, bekommen wir eine Flut von Forderungen.“ Denn den anderen Parteien gehe es nicht nur um eine Lockerung in Ausnahmesituationen: „SPD und Grüne wollen eine grundsätzlich auf Schulden basierte Politik. In diesem Sinne sind die Aussagen des Parteivorsitzenden im TV-Duell zu verstehen“, so der CDU-Politiker.
Die FDP geriert sich unterdessen als einzig wahre Sachwalterin des Neoliberalismus: „Friedrich Merz behauptet, der Staat habe kein Einnahmenproblem, doch gleichzeitig sägt er an der Schuldenbremse“, schimpfte der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Christoph Meyer im „Spiegel“. Dabei stünden das Kreditrating Deutschlands an den Kapitalmärkten und die Stabilität des Euro auf dem Spiel.
Während die Parteizentralen von CDU und FDP weiterhin das neoliberale Mantra bemühen, „Staatsschulden belasten zukünftige Generationen“, kommen Simulationsrechnungen von Wissenschaftlern des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zu einem gegenteiligen Ergebnis: Ein groß angelegtes kreditfinanziertes öffentliches Investitionsprogramm wäre auch für die heutige Kindergeneration wirtschaftlich absolut lohnend, so die Studie.
Ausgangspunkt der Berechnungen ist ein Programm, wie es das IMK bereits im vergangenen Jahr vorgeschlagen hatte. Dieses sieht zusätzliche öffentliche Investitionen von insgesamt 600 Milliarden Euro verteilt über zehn Jahre vor. Ein Drittel davon soll dazu dienen, den Sanierungsstau der Kommunen aufzulösen. Weitere 200 Milliarden sind für klimafreundliche Modernisierungen vorgesehen, 127 Milliarden sollen in Verkehrswege und den öffentlichen Personennahverkehr investiert werden, 42 Milliarden in die Bildungsinfrastruktur und 37 Milliarden in den sozialen Wohnungsbau.
Nach den Berechnungen des IMK würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt damit in den kommenden 25 Jahren insgesamt um bis zu 4.750 Milliarden Euro höher ausfallen als ohne eine Investitionsoffensive. Das entspricht einer um 3.600 Euro höheren Wirtschaftsleistung pro Kopf im Jahr 2045, wenn der Höhepunkt der errechneten Wachstumseffekte erreicht wäre.
Zurück zu Friedrich Merz. Schon im November des vergangenen Jahres hatte er beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt, die Schuldenbremse sei ein technisches Thema: „Selbstverständlich kann man das reformieren. Die Frage ist wozu, mit welchem Zweck? Was ist das Ergebnis einer solchen Reform? Ist das Ergebnis, dass wir noch mehr Geld ausgeben für Konsum und Sozialpolitik? Dann ist die Antwort nein.“ Wenn es jedoch um neue kreditfinanzierte Aufrüstungsprogramme oder die im Wahlprogramm versprochenen milliardenschweren Steuergeschenke für Konzerne und große Vermögen geht, scheint man gerne bereit zu sein, die heilige Kuh Schuldenbremse auf dem Altar der Realpolitik zu schlachten.