Rücktritt von Jäger gefordert

Markus Bernhardt im Gespräch mit Sascha H. Wagner

UZ: Noch immer sorgen die Übergriffe gegen Frauen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof für öffentliche Empörung. Als Täter wurden Männer mit Migrationshintergrund ausgemacht. Wie bewertet Ihre Partei die Vorgänge von Silvester und die daraus resultierenden Debatten?

Sascha H. Wagner ist Landesgeschäftsführer der nordrhein-westfälischen Linkspartei.

Sascha H. Wagner ist Landesgeschäftsführer der nordrhein-westfälischen Linkspartei.

( Partei „Die Linke“)

Sascha H. Wagner: Wir unterstreichen deutlich, dass es keine Entschuldigung für sexualisierte Gewalt an Frauen gibt – egal wann, wo und von wem sie begangen wird. Die Geschehnisse von Köln müssen aufgearbeitet, die Täter ausfindig gemacht und strafrechtlich verurteilt werden.

Doch längst geht es in der Debatte nicht mehr um sexualisierte Gewalt an Frauen, sondern um Geflüchtete und Menschen mit einem Migrationshintergrund – insbesondere aus muslimischen Ländern. Dieser Diskurs entbehrt jeder sachlichen Grundlage und strotzt von Vorurteilen und rassistischen Ressentiments. Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. So diskutiert zum Beispiel kaum jemand über die Situation in den Frauenhäusern, deren Stärkung und finanzielle Verstetigung, sondern über Asylrechtsverschärfungen und Abschiebungen. Es wird so getan, als ob sexualisierte Gewalt an Frauen lediglich ein Problem der Zugewanderten wäre.

UZ: Der nordrhein-westfälische Landtag hat sich in der letzten Woche im Rahmen einer Sondersitzung mit den sexistischen Übergriffen befasst. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sprach von einer „operativen Fehleinschätzung“ der Kölner Polizei, stellte sich jedoch hinter ihren Innenminister Ralf Jäger (SPD). Wie bewerten Sie Jägers Rolle bezüglich der Vorgänge von Köln?

Sascha H. Wagner: Jäger hat ein ausgesprochenes Talent dafür, sich die Dinge und Sachlagen schön zu reden. Ein großes Problem ist ja wohl die mangelnde Kompetenz in den Reihen der Einsatzleitung, aber auch die Personalentwicklung in NRW bei der Polizei. Wir müssen auch darüber reden, dass Anzeigen sexueller Belästigung bei der Polizei oft nicht ernst genommen werden. Wer wirklich Frauen vor sexualisierter Gewalt schützen möchte, darf dazu nicht schweigen. Wer, wenn nicht der Innenminister, trägt hier die Verantwortung?

Wir dürfen die Straßen doch ebenso wenig der Selbstjustiz von Bürgerwehren überlassen wie den Banden der Silvesternacht. Die Antwort auf die Ereignisse in Köln muss deutlich sein: Sexismus und Rassismus haben keinen Platz in unserer Gesellschaft. Gerade hier ist der Innenminister jetzt gefragt, dringend zu handeln und aufzuklären.

UZ: Auch darüber hinaus ist die Liste der Verfehlungen Jägers keineswegs kurz. Welche Fälle sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Sascha H. Wagner: Da gibt es eine ganze Reihe. IM Jäger scheint häufig auch auf dem rechten Auge etwas blind zu sein, wie etwa bei den „Dügida“-Demos in der Landeshauptstadt oder anderen rechten Zusammenkünften wie bei den „HoGeSa“-Ereignissen zeigt sich das Innenministerium schlecht informiert. Die mangelnde Kompetenz zeigt sich aber darüber hinaus an vielen Punkten. Etwa bei den Vorkommnissen bei der Kommunalwahl 2014, als die Anhänger der Partei „Die Rechte“ vor dem Dortmunder Rathaus aufmarschierten oder die Aufklärungsdefizite bei dem damaligen „Loveparade“-Unglück. Oder erst neulich bei den Vorfällen der Klimaproteste im rheinischen Braunkohlerevier um Garzweiler „Ende Gelände“. Hier setzte die Polizei Pfefferspray und Schlagstöcke gegen Demonstrantinnen und Demonstranten ein. Polizeieinsatzkräfte in RWE-Geländewagen machten zudem gemeinsam mit dem betriebseigenen Sicherheitsdienst Jagd auf Demonstrierende. Jäger sah auch hier kein Fehlverhalten. Die Liste ist lang.

UZ: Ist Jäger als Innenminister überhaupt noch tragbar?

Sascha H. Wagner: Wenn es nach der Ministerpräsidentin Kraft geht, anscheinend. Ich halte es zunehmend für nicht mehr hinnehmbar, Herrn Jäger weiter im Amt zu lassen.

UZ: Ist die „rot-grüne“ Landesregierung nur in Sachen Innen- und Rechtspolitik derart defizitär aufgestellt?

Sascha H. Wagner: Da gibt es eine Menge Baustellen. NRW-Familienministerin Christina Kampmann (SPD) redet sich ihre Familienpolitik schön. Sie bestreitet, dass es zu wenige U3-Plätze in NRWs Kitas gibt. Eine Studie der TU Dortmund widerlegte dies. Danach steigt der U3-Bedarf bundesweit am stärksten in Nordrhein-Westfalen. Auch hier hat die Landesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Der Spruch von Frau Kraft, „Wir wollen kein Kind zurücklassen“, war reine Makulatur im Wahlkampf. Es fehlt an Lehrer- und Sozialarbeiterstellen wo man nur hinsieht.

UZ: Vor welchen Herausforderungen sehen Sie NRW ansonsten in diesem Jahr?

Sascha H. Wagner: Ganze Viertel im Ruhrgebiet verkommen zunehmend, die kommunalen Haushalte sind am Ende ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und die alteingesessenen Parteien beschneiden die soziale Infrastruktur. Wenn die Finanzierung der Kommunen nicht schleunigst auskömmlich von Bund und Land gestaltet werden, wachsen auch die Konfliktpotentiale an. Und natürlich müssen wir jetzt dringend darüber reden, wie wir mit der Situation der hilfesuchenden Menschen in Nordrhein-Westfalen umgehen. Es muss auch deutlich gemacht werden, dass die bisher regierenden Parteien in NRW den sozialen Wohnungsbau im Einklang mit dem Bund systematisch zurückgefahren haben. Das rächt sich nun. Dennoch haben wir viele Wohnungen in NRW, die zur Spekulationsmasse geworden sind und leer stehen. Da gibt es viele Möglichkeiten, über die man sprechen muss.

UZ: Ihrer Partei wird aktuellen Meinungsumfragen zufolge der Einzug in den Landtag prognostiziert. Wie groß ist die Gefahr, dass die sozialchauvinistische und rassistische AfD dies verhindern könnte, die zunehmend bei den Wählerinnen und Wählern punkten kann?

Sascha H. Wagner: Unsere Aufgabe besteht vor allem darin deutlich zu machen, dass eine AfD nicht an der Lösung der sozialen Frage interessiert ist. Sie versuchen einfach nur die Menschen gegeneinander auszuspielen und tun dies mit schlimmen Ressentiments. Wir brauchen breite Bündnisse für den Protest auf den Straßen gegen diese menschenverachtenden Ideologien und müssen auch als Partei klare Kante zeigen.

UZ: Die NRW-Linksfraktion hat von 2010 bis zu den damaligen Neuwahlen 2012 die „rot-grüne“ Landesregierung geduldet. Können Sie sich eine Neuauflage dieser Duldung nach der Landtagswahl im Frühling 2017 erneut vorstellen?

Sascha H. Wagner: Momentan laufen die Debatten eher dahin, dass es für uns schwerlich vorstellbar ist eine solche Konstellation erneut zu erdulden. Entscheiden wird das jedoch die Basis. Die Frage ist es doch, ob es gelingt, NRW wieder ein soziales Gesicht zu geben. Wir brauchen dringend notwendige Investitionen im Infrastrukturbereich, in Bildungsangelegenheiten und die kommunalen Haushalte müssen nachhaltig entlastet werden. Derzeit sehe ich nicht, dass die rot-grüne Landesregierung diesen konsequenten Weg gehen will.

UZ: Eine Koalition mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen schließen Sie also nicht aus?

Sascha H. Wagner: Es wäre unseriös, zu einem solchen Zeitpunkt von vornherein alles auszuschließen. Was ist, wenn die AfD in den Landtag einzieht und sich eine rechte Mehrheit von CDU und AfD bildet? Die Inhalte werden am Ende entscheidend sein. Wir wollen soziale Verbesserungen für die Menschen in NRW. Derzeit kann ich jedoch nicht erkennen, dass die jetzigen Regierungsparteien bereit sind, diese deutlichen Verbesserungen sprich: mehr Personal im öffentlichen Dienst, mehr Investitionen in Bildung und eine bessere Ausfinanzierung der kommunalen Haushalte zu schaffen. In NRW muss dringend die soziale Frage diskutiert werden. Dafür stehen wir bereit.

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"Rücktritt von Jäger gefordert", UZ vom 22. Januar 2016



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