Am 15. und 16. Mai ist in Chile die im Kern noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende Verfassung beerdigt worden. An diesem Wochenende waren die Bürgerinnen und Bürger des südamerikanischen Landes aufgerufen, eine Verfassunggebende Versammlung zu wählen. Das war ein Erfolg der großen Protestbewegung, die sich im Herbst 2019 zunächst an der Erhöhung von Fahrpreisen in der Metro von Santiago de Chile entzündet hatte, dann aber zunehmend die gesamte staatliche Ordnung infrage stellte. Die Corona-Pandemie sorgte dann zwar dafür, dass die ursprünglich bereits für 2020 geplante Wahl verschoben werden musste, doch im Mai war es dann endlich so weit.
Das Ergebnis war für die bürgerlichen Demoskopen eine dicke Überraschung. Das wichtigste Resultat: Der Block der rechten Parteien, der unter dem Namen „Vamos por Chile“ (etwa: „Wir marschieren für Chile“) angetreten war, erreichte nur 20,56 Prozent der Stimmen und 37 der 155 Sitze in der Constituyente – damit verpasste das von Staatschef Sebastián Piñera unterstützte Bündnis das Ziel, mehr als ein Drittel der Mandate und damit eine Sperrminorität zu erringen. Denn in der Verfassunggebenden Versammlung muss jeder einzelne Artikel des neuen chilenischen Grundgesetzes per Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden – die Rechten hatten darauf spekuliert, so grundlegende Veränderungen verhindern zu können.
Unklar ist aber, wie sich die großen Gewinner der Wahl positionieren werden. Unzählige Politikerinnen und Politiker waren als „Unabhängige“ angetreten, und sie erreichten zusammen fast 40 Prozent der Stimmen und 49 Sitze. Im Vorfeld der Wahl hatten Beobachter jedoch gewarnt, dass sich unter dem Ticket der „Unabhängigen“ auch bekannte Politikerinnen und Politiker der traditionellen Parteien beworben hatten. Wie sie sich verhalten, wird auch vom öffentlichen Druck abhängen.
Einen großen Erfolg feierte auch das unter anderem von der Kommunistischen Partei Chiles angeführte Bündnis „Apruebo Dignidad“ (etwa: „Ich stimme für die Würde“). Mit 18,74 Prozent der Stimmen und 28 Mandaten landete die Allianz sogar vor der Liste der sozialdemokratischen und zentristischen Parteien. Diese kamen nur auf 14,45 Prozent und 25 Mandate.
Dieser Erfolg der konsequenten Linken verspricht nicht nur eine spannende Dynamik bei den Verhandlungen über eine neue Verfassung. Sie stellt darüber hinaus die politischen Weichen neu, denn am 21. November soll in Chile auch ein neuer Präsident gewählt werden. In den Umfragen vorne liegt aktuell Daniel Jadue, Mitglied der Kommunistischen Partei und Bürgermeister der nahe der Hauptstadt Santiago gelegenen Gemeinde Recoleta. Bei der ebenfalls am 15. und 16. Mai durchgeführten Kommunalwahl wurde er mit über 64 Prozent in seinem Amt bestätigt.
Bis in das Präsidentenamt wäre es aber noch ein weiter Weg. Als erster Schritt stehen Vorwahlen innerhalb des Linksbündnisses Apruebo Dignidad an. Während die KP auf Jadue setzt, haben die anderen Parteien den ehemaligen Studentenaktivisten Gabriel Boric nominiert. Außerdem bemühen sich die Linksparteien noch um eine gemeinsame Kandidatur mit Sozial- und Christdemokraten, die ebenfalls eigene Kandidaten nominiert haben, um eine Spaltung der fortschrittlichen Stimmen zu verhindern. Insbesondere die Christdemokraten verweigern aber aktuell ein Bündnis mit den Kommunisten und wollen sich keiner gemeinsamen Vorwahl unterstellen.
Im Gespräch mit der Wochenzeitung „El Siglo“ analysierte der Kolumnist Ernesto Águila, dass diese Haltung der „gemäßigten Linken“ eher schaden könnte als den Mitgliedern des Linksbündnisses, denn die jüngsten Wahlen hätten gezeigt, dass die Menschen nicht mehr für das „kleinere Übel“ stimmen wollten. Deshalb sei es noch nicht einmal ausgemacht, dass sich bei der zu erwartenden Stichwahl die Rechte und die Linke gegenüberstehen werden – es sei nicht auszuschließen, dass der Kandidat der Rechten nur auf dem dritten Platz lande und die Staatsspitze deshalb zwischen den fortschrittlichen Blöcken ausgemacht werde.
Insbesondere die Kommunisten fühlen besonderen Rückenwind, nachdem sie bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung und den Kommunal- und Regionalwahlen besser abgeschnitten haben als erwartet. Besonders symbolträchtig war dabei der Ausgang der Bürgermeisterwahl in Santiago de Chile. Das Zentrum der Hauptstadt – das sprachlich oft mit der gesamten Metropole gleichgesetzt wird – wird künftig von der Kommunistin Irací Hassler regiert, einer Aktivistin mit indigenen und Schweizer Wurzeln. Bei der Wahl konnte sie sich mit rund 3.000 Stimmen Vorsprung – knapp 39 gegen 35 Prozent – gegen den rechten Amtsinhaber Felipe Alessandri durchsetzen. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein Mitglied der Kommunistischen Partei Bürgermeisterin (oder Bürgermeister) von Santiago de Chile wird. Ein hoffnungsvolles Signal für die Zukunft.