Die soziale Frage
Die Marxistische Blätter, Heft 4_2018, sind erschienen
Schwerpunkt des Heftes ist dieses Mal „Die soziale Frage“. Dazu heißt es einleitend im Editorial: „Es gibt – selbst von Apologeten des Kapitalismus – unbestritten, weltweit eine rasant anwachsende, explosive Mischung ungelöster sozialer Fragen. Da hat der Präsident der Europäischen Linken, Gregor Gysi, einfach Recht, wenn er in seiner Rede auf dem jüngsten Leipziger Parteitag der ‚Linken’ als vorrangige Aufgabe formuliert, ‚eine Antwort auf die soziale Frage als Menschheitsfrage zu suchen’. Aber was ist die soziale Frage? Die Summe der vielen? Die von unterschiedlichen Akteuren im politischen Ranking jeweils auf Platz 1 gesetzte? Oder ist sie die Schlüsselfrage, deren Beantwortung die Lösung vieler anderer erleichtert? Zur klärenden Diskussion dieser Frage beizutragen ist Absicht unseres Schwerpunktthemas. Beabsichtigt ist natürlich die weitgehende Konzentration auf die ‚Welt der Arbeit’ (incl. der hier Ausgesperrten). Denn für Hegel, Marx und uns war, ist und bleibt die Stellung der (Lohn-)Arbeit in der Gesellschaft die soziale Frage und der Kampf um deren Emanzipation die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Was das für die Politik jeder wirklichen Partei der Arbeiterklasse konkret heißt, wird weiter zu diskutieren sein.“
Zum Thema schrieben:
Arnold Schölzel: Pauperismus, Arbeiterklasse und die Wiederkehr der sozialen Frage – Rainer Roth: Von der Sklaverei zur Lohnsklaverei – Patrick Schreiner: Die soziale Frage bei Friedrich August von Hayek. „Entlohnung, die durch den freien Markt zustande kommt, als gerecht ansehen“ – Petra Heiner: Die Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ – Werner Rügemer: Share Economy: Weltkonzerne mit Tagelöhner-Armee – Dr. Volkmar Schäneburg: Zur Renaissance des Strafrechts in Zeiten sozialer Unsicherheit – Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Die Geißel Arbeitslosigkeit beseitigen. Dokumentiert wird der Beschluss des Leipziger Parteitages der Partei „Die Linke“ „Für ein Recht auf gute Arbeit und gutes Leben“.
Außerdem im Heft:
Aktuelles: Weltkonjunktur: Ist die Party vorbei? (Fred Schmid) – Iran, das Öl und der Dollar (Jens Berger) – „Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen“, Rede anlässlich des 25. Jahrestags des Solinger Brandanschlags im Theater- und Konzerthaus Solingen (Rolf Gössner) – Betriebsratswahlen 2018 – eine erste Bilanz (Rainer Perschewski)
Positionen: Zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution (Heiner Karuscheit) – Gibt es einen Unterschied zwischen einer „idealistischen“ (Hegel) und einer „materialistischen“ Dialektik (Marx und Engels)? (Richard Sorg)
Diskussion: Syrien, die Kurden und eine verkürzte Solidarität (Joachim Guilliard).
Sowie Konferenzen und Veranstaltungen, Buchbesprechungen
Im Februar 2018 erschien im Berliner Verlag Neues Leben ein Band mit Gesprächen, die Arnold Schölzel, Chefredakteur der „jungen Welt“ von 2000 bis 2016, und Johannes Oehme mit Hans Heinz Holz wenige Monate vor seinem Tod an seinem Krankenbett in San‘ Abbondio geführt hatten. Die Autoren wollten von Hans Heinz Holz möglichst viel über seinen wissenschaftlichen und politischen Werdegang erfahren. „Den Rückblick auf sein Leben gestaltete Hans Heinz Holz zu einer Wanderung durch die europäische Philosophie seit ihren Anfängen, durch die Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts, durch Kunst, Kultur und Sprache, und er kehrte immer wieder zurück, was ihn geprägt hat und leitet: Humanismus, Antifaschismus, Engagement gegen Ungerechtigkeit, Restauration und Konterrevolution, der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.“ (S. 7)
Man erfährt in diesem Gesprächsband sehr viel über das Leben von Hans Heinz Holz, seinen beruflichen, wissenschaftlichen und politischen Werdegang. Und da ist vieles sehr beeindruckend, Rückblicke auf ein erfülltes Leben und große Leistungen. Ich hätte mir jedoch gewünscht, dass die Interviewer in einigen der Gespräche kritischer nachgefragt und Aussagen hinterfragt hätten. Nicht nur weil persönliche Betrachtungen meist durch die persönlichen Erfahrungen wie den subjektiven Erinnerungsstand geprägt sind. Historiker kennen diese Tücken der sogenannten Oral History, der Befragung von Zeitzeugen. Und bedauerlicherweise konnte Hans Heinz Holz durch seinen Tod im Dezember 2011 die Texte nicht mehr kritisch sichten und selbst entscheiden, was veröffentlicht werden sollte.
Theoretische Positionen
Ausführlich haben ihn die Interviewer, vor allem Arnold Schölzel, zu seinen theoretischen Positionen befragt. So zur Geschichte der Dialektik und seine Widerspiegelungsauffassung (S. 97 bis 144), zu seinen Auffassungen über Ästhetik und Kunstkritik (S. 145 bis 179) sowie zum Verhältnis von Religion, Literatur und Philosophie (S. 242 bis 252), zu seinen Positionen zum Verhältnis von Sprache und Denken im Zusammenhang mit seiner Sicht auf China und die chinesische Kultur (S. 269 bis 279). Es ist erstaunlich, mit wie vielen Themen und Problemen sich Hans Heinz Holz im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt hat. Aber folgen muss man ihm nicht in allen Fragen. Und so gibt es beispielsweise auch in der dialektisch-materialistischen Philosophie andere berechtigte Forschungsprogramme als das, das er verfolgte. Unter anderem wäre über seinen eher deduktiv orientierten Denkansatz bei der Erschließung der Dialektik zu streiten, über seine Totalitätsauffassung und auch sein Widerspieglungskonzept. Und auch über seine Aussagen über die Philosophie in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern könnte man sehr streiten. Keineswegs gab es da durchgängig ein lineares Entwicklungsdenken, eine Missachtung der Dialektik oder gar eine „geistige Stagnation“.
Holz sah eine solche Stagnation offenbar vor allem nach 1956 – eine völlig einseitige Sicht für einen Wissenschaftler, der mit sowjetischen und DDR-Hegelforschern lange Jahre nach 1956 zusammenarbeitete. Und er gab dem XX. Parteitag der KPdSU Schuld an dieser vermeintlichen Situation: Mit der Debatte über Stalin sei die Leninsche Tradition auch problematisch geworden. Philosophisch „wirkte sich das so aus, dass die hegelianische Tradition nicht mehr weiterverfolgt wurde. Die ganze Dialektik war den Revisionisten unsympathisch.“ (S. 115) Verwunderlich nur, dass die Leninsche Tradition, wie Alfred Kosing zum Beispiel in seinem Buch „Stalinismus’. Untersuchung von Ursprung, Wesen und Wirkungen“ (Berlin 2016) nachweist, von Stalin schon weit früher weitgehend entsorgt oder zu seinen Zwecken – verkürzt, verflacht – benutzt wurde. Und noch verwunderlicher ist, dass Hans Heinz Holz, der sich sein ganzes Leben gegen Ungerechtigkeiten eingesetzt hatte, ausgerechnet Stalin rechtfertigt – Terror und Unrecht aber nicht bestreitet. 1956 war für ihn übrigens ein Schlüsseljahr. Der XX. Parteitag der KPdSU war für ihn der erste Schritt zur Konterrevolution (S. 58).
Zu einer erkannten Einsicht stehen …
Im Gesprächsband erfährt man nicht nur viel über seine wissenschaftlichen Positionen, sondern auch über die Nachkriegsjahre und die Kämpfe gegen Restauration, Remilitarisierung, später gegen die Atombewaffnungspläne sowie die Notstandsgesetze in der alten Bundesrepublik und die Studentenbewegung. Man erfährt auch einiges über seine Persönlichkeit, seine Sicht auf Weggefährten, Kritiker und Kontrahenten. Wenig erfährt man dagegen über die konkrete Arbeit der KPD vor ihrem Verbot und über die Bewegungen zur Aufhebung des KPD-Verbots, noch weniger über die DKP – vor allem die Schwierigkeiten, diese nach 1989/90 zu erhalten.
Geboren im Jahr 1927 in Frankfurt am Main, wuchs Hans Heinz Holz im Umfeld eines „eher monarchistisch gesinnten Großbürgertums“ (S. 10) auf. Geprägt hat ihn aber vor allem seine Mutter. Sie hat ihm vermittelt, „was es heißt, redlich, nicht opportunistisch zu sein, sondern zu einer erkannten Einsicht zu stehen und sie zu reflektieren.“ (S. 9/10) Und: Sie ging mit großer Gelassenheit mit ihm um, förderte seine Begabungen, machte ihm, wie er erzählte „ganze Bibliotheken“, auch Bücher von durch die Faschisten verbotenen Autoren, zugänglich. 1938 wurde dann ein enger Freund seiner Familie, ein jüdischer Arzt, von der SA auf offener Straße totgeschlagen. Auf dem Boden des Gerechtigkeitsgefühls, das ihn seine Mutter gelehrt hatte, entstand bei ihm unbändiger Hass gegen das System. (S. 13) Und auf dem Gymnasium hatte er Glück: Er kam auf eine Schule, in der die Lehrer fast „durchgängig bürgerliche Antifaschisten waren“. (Ebenda)
Als er mit Schulkameraden heimlich Flugblätter herstellte wurde er verraten und verhaftet. Am gleichen Tag wurde die Druckerei in Frankfurt am Main, in der die Flugblätter heimlich gedruckt worden waren, von einer Bombe völlig zerstört. Das war sein Glück, die Beweise waren vernichtet. In der Haft lernte Hans Heinz Holz einen jungen Kommunisten kennen, der ihn mit seinem Wissen und seinen Einschätzungen tief beeindruckte. Holz kam Monate später frei, wurde wegen seines Gesundheitszustandes nicht eingezogen, konnte noch im März 1945 sein Abitur ablegen. Wenig später wurde Frankfurt am Main von US-amerikanischen Truppen befreit und ihm Arbeit in der Militärregierung angeboten. Später studierte er, arbeitete zugleich als Journalist, wurde Mitglied der KPD. Der Weg zum hochgeachteten Philosophieprofessor in Marburg und vor allem im niederländischen Groningen war aber noch lang. Immer wieder stieß er dabei auch auf antikommunistische Vorurteile. Trotzdem blieb er seiner Überzeugung sein Leben lang treu.
„Niederlage und Neuanfang –
Organisationsarbeit in der DKP“
Der letzte Abschnitt „Niederlage und Neuanfang – Organisationsarbeit in der DKP“ wird Manchen überraschen, vielleicht auch sehr enttäuschen.
Da werden durch den Fragesteller und die Antworten von Hans Heinz Zweifel an der Berechtigung der Neukonstituierung der DKP im Jahr 1968 geweckt (S. 307 f.). „Ich hätte die DKP nicht gegründet. Ich hätte den Kampf um die Legalisierung der KPD weitergeführt (…) Ich bin der Überzeugung, dass unter den Bedingungen des Jahres 1968/69/70 (…) die Tendenz Zugeständnisse zu machen (…) groß genug war, dass man mit genügender Härte die KPD hätte wieder installieren können.“ Und: „Wenn die alte KPD mit alten Kadern, die noch KZ-Erfahrung und alles hatten, angefangen hätte, illegale Strukturen aufzubauen, Parteigruppen, die hätten nicht besonders aktiv sein müssen als Partei, aber sie hätten als Organisation Zusammenhalt haben müssen, das denke ich, wäre gegangen. Dort wären viele von den Jungen, die wir dann für die DKP gewonnen haben, … harte Kommunisten geworden. In der DKP sind sie Anpasser geworden und darum auch in der Krise der Neuerer wieder abgesprungen.“ (S. 309) Das prägt leider diesen Abschnitt, kann aber einer historisch-materialistischen Analyse nicht standhalten. Hätte es denn damals wirklich eine Chance zur Wiederzulassung der KPD gegeben (und damit die Rehabilitierung aller Verfolgten, die Rückgabe des gesamten beschlagnahmten Parteivermögens)? Bis heute geht der Kampf um die Aufhebung des KPD-Verbots und ein Ende ist nicht absehbar. Was ist zudem mit dem, was die Mitglieder der DKP von 1968 bis 1989 und danach in Betrieben, Hochschulen, in Städten und Gemeinden, in Bewegungen politisch geleistet haben? Und dabei nicht selten berufliche Nachteile bis hin zu Berufsverboten erleben mussten?
Hans Heinz Holz zeigte – anders als seine Interviewer – zumindest an diesem Punkt Distanz: „Aber ich bin kein Parteiführer. Es kann sein, dass das eine völlig falsche Einschätzung eines Intellektuellen ist. (Lachen). Das möchte ich gern als Relativierung einräumen. Ich habe nie in der Verantwortung gestanden, eine Partei zu führen oder auch an der Führung einer Partei Anteil haben zu müssen.“ (S. 309 f.)
Der Gesprächsband enthält eine Kurzbiografie von Hans Heinz Holz, ein Werkverzeichnis und ein Personenregister.
Hans Heinz Holz: Die Sinnlichkeit der Vernunft. Gespräche mit Arnold Schölzel und Johannes Oehme. Februar 2011, Das Neue Berlin, Berlin 2017, 336 Seiten, 20,- Euro.