Liebe Anwesende.
Heute vor 76 Jahren befreite die rote Armee Auschwitz – auch das Nebenlager B II e, das sogenannte „Zigeunerlager“. Für die allermeisten der Sinti und Roma, die am 9. März 1943 von hier – von diesem Ort – aus deportiert wurden, kam die Befreiung zu spät. Die Todesfabrik hatte sie schon zu Asche und Rauch – „verarbeitet“. Außer diesem Stein erinnert nichts mehr an sie.
Der Stein ist ein Gedenkstein zum „ehrenvollen Gedenken an die Ermordeten“. Bis heute ist er auch ein Stein des Anstoßes, auf dessen Tafel geschrieben steht: „… den Lebenden zur Mahnung, stets rechtzeitig der Unmenschlichkeit entgegenzutreten.“
Die Mahnung ist aktueller als uns recht sein kann. Denn der Antiziganismus ist nach wie vor tief verankert. Und er ist nicht annähernd so geächtet wie der Antisemitismus. Der faschistische Völkermord an den Sinti und Roma ist im kollektiven Gedächtnis kaum präsent. Sein Name, das Romanes-Wort Porajmos, – auf deutsch: „das Verschlingen“ – ist im Land der Täter nur sehr wenigen ein Begriff.
An historischem Wissen fehlt es nicht. Am 16. März 1997 hat der damalige Bundespräsident Herzog den heutigen Forschungsstand in die klaren Worte gefasst: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist mit dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.“
Für die allermeisten Überlebenden kamen diese deutlichen Worte des Bundespräsidenten zu spät. Sie wurden auch nach 1945 als „Asoziale“ und „Kriminelle“ stigmatisiert und schikaniert. Von „Wiedergutmachung“ kann keine Rede sein. Noch 1956 rechtfertigte der Bundesgerichtshof den Naziterror vor 1943, weil er angeblich noch nicht rassistisch motiviert, sondern von den „Zigeunern“ selbst durch „eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ veranlasst gewesen sei. In unerträglichem Herrenmenschenton wurde den Opfern höchstrichterlich bescheinigt, dass ihnen „vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum“ fehlten, „weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen“ sei.
Für die Überlebenden war der Rechtsnachfolger des Mörderstaates alles andere als ein Rechtsstaat. Ihre Behandlung durch die bundesdeutschen Behörden ist zutiefst beschämend. Der von dem jüdischen Überlebenden Ralph Giordano geprägte Begriff der zweiten Schuld trifft ohne Wenn und Aber auch auf das Unrecht zu, das den Sinti und Roma nach 1945 angetan wurde.
Heute – in unserer unmittelbaren Gegenwart – darf die NPD ungehindert plakatieren: „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma!“ Das Verwaltungsgericht München kann keine Volksverhetzung erkennen. Die Verdrängung der Vergangenheit bereitet den Boden für neue Unmenschlichkeit. Immer noch und schon wieder.
Die verdrängte Vergangenheit vergeht nicht. Erst die Erinnerung an die historische Schuld eröffnet die befreiende Perspektive einer anderen menschlichen Zukunft. Das ehrenvolle Gedenken an die Ermordeten und die Mahnung an die Lebenden sind zwei Seiten einer Medaille. Der Medaille der Menschlichkeit.
Das ehrenvolle Gedenken an die Ermordeten erfordert nicht mehr als den Mut zur historischen Wahrheit. Die Ermordung der Sinti und Roma war rassistischer Massenmord. Das individuelle Verhalten oder die Lebensweise der Opfer diente allenfalls als Vorwand. Sie wurden ohne Ansehung der Person enteignet, entwürdigt und ihres Lebens beraubt. Sie waren Opfer rassistischer Verfolgung. Opfer faschistischen Rassenwahns.
Ob und inwiefern es sich bei den Sinti und Roma tatsächlich um so etwas wie eine Rasse handelt, ist in diesem Zusammenhang völlig unerheblich. Die Mörder hatten die Definitionsmacht. Bei der jüdischen Bevölkerung ließ sich die angebliche Rasse an der Religionszugehörigkeit der Großeltern festmachen. Bei den sogenannten „Zigeunern“ war die Erfassung nicht so einfach. Es brauchte Experten – sogenannte „Ziganologen“ – die durch rassistische Untersuchungen wie Schädelmessungen eine wissenschaftlich verbrämte Datenbasis für den Völkermord bereitstellten.
Die Bestimmung der Rasse schrieb mit der vermeintlichen Herkunft zugleich die Zukunft fest – im Rahmen eines rassistischen Menschenzuchtprogramms der „Aufartung durch Ausmerzung“. Williger Vollstrecker war eine menschenverachtende Medizin, die die „rassenhygienische“ Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen als „Heilung“ eines imaginären „Volkskörpers“ verklärte. Für die als asoziale und kriminelle Rasse stigmatisierten „Zigeuner“ bedeutete diese perverse Heilung das Todesurteil. Die Vernichtung durch Arbeit, Erschießungskommandos und Gaskammern.
„Im Dritten Reich hungert und friert niemand. Wer es dennoch tut, kommt ins KZ.“ Dieser Flüsterwitz aus den faschistischen Vorkriegsjahren enthüllt die ungeheure soziale Kälte der sogenannten Volksgemeinschaft. Die angebliche Armutsbekämpfung war in Wahrheit brutalste Armenbekämpfung. Besonders hart betroffen war die angeblich asoziale Rasse der sogenannten „Zigeuner“. Alle gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Diskriminierungsmaßnahmen wurden ausdrücklich oder automatisch auch auf sie übertragen. So waren beispielweise Liebesbeziehungen zu sogenannten „Ariern“ lebensgefährliche „Rassenschande“.
Am 8. Dezember 1938 stellte Himmler in einem Runderlass eine „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse“ in Aussicht. In diesem Erlass ist auch schon ausdrücklich von der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ die Rede. Während des zweiten Weltkriegs wurde auch diese „Endlösung“ immer hemmungsloser in die Tat umgesetzt. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion wurden die Roma wie Freiwild von den Einsatzgruppen gejagt und vom Kleinkind bis zur Greisin ermordet. Der berüchtigte Kommissarbefehl war der Freibrief für die Völkermordroutine. Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 markiert eine Etappe – nicht den Beginn – des Porajmos. Nach allem, was wir heute über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten und auf dem Balkan wissen, dürfte die vom Zentralrat der Sinti und Roma angenommene Zahl von insgesamt 500 000 Opfern wohl kaum übertrieben sein.
Wenn heute der 50. Jahrestag der Befreiung wäre, könnte ich jetzt an dieser Stelle mit den Worten schließen: Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg!
Aber dieses „Nie wieder“ wäre zu schön, um wahr zu sein. Die bittere Wahrheit am heutigen 76. Jahrestag ist, dass Deutschland wieder Krieg führt. Nicht nur in Afghanistan, sondern – mehr oder weniger verdeckt – an vielen Kriegsschauplätzen. Krieg von deutschem Boden ist zur imperialistischen Normalität geworden. Trotz Auschwitz!
Ohne den Überfall auf Polen hätte das polnisch-jüdische Oswiecim niemals zu Auschwitz werden können. Der Vernichtungskrieg und das Vernichtungslager sind zwei untrennbar miteinander verbundene Seiten einer menschenverachtenden imperialistischen Politik. Daran gilt es gerade heute immer wieder zu erinnern. Sonst gewöhnen wir uns am Ende noch selbst an eine sogenannte „Staatsraison“, zu der das Gedenken an Auschwitz ebenso selbstverständlich gehört wie das Führen von Kriegen. Ganz so, als ob Krieg nach Auschwitz jemals wieder Mittel zur Durchsetzung deutscher Interessen sein dürfte!
Der Dammbruch zur unerträglich unverkrampften Kriegspolitik von heute war der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Er wurde angeblich nicht trotz, sondern wegen Auschwitz geführt. Die Wahrheit war auch das erste Opfer dieses Krieges, für den die Losung „Nie wieder Auschwitz!“ ebenso schamlos wie wirkungsvoll missbraucht wurde.
Ergebnis des angeblichen „Nie-wieder-Auschwitz!“-Kriegs war ein bezeichnendes Kriegsverbrechen: die Vertreibung der Roma aus dem Kosovo durch die albanischen NATO-Verbündeten. Dieses Verbrechen wird bis heute totgeschwiegen. So wiederholt sich Geschichte.
Rom heißt Mensch. Einfach nur Mensch – ohne Habe, ohne Lobby, ohne Staat. Die Achtung der Roma ist der Prüfstein der Menschlichkeit. Damals und heute.