Wie seit den 70er Jahren mehr Pflegekräfte erkämpft wurden – und die Regierung seitdem die Kliniken am Profit ausrichtet

Rollback bis zur Untergrenze

Von Nicole Drücker

Ob in den Krankenhäusern genug Personal arbeitet, um die Patienten gut zu versorgen, ist das Ergebnis von Kämpfen – das zeigt sich nicht nur in der gegenwärtigen Bewegung für Entlastung, sondern auch an einem Blick in die vergangenen Jahrzehnte. Schon in den 1960er Jahren war der Personalmangel im Krankenhaus ein großes Thema. Die Kampfkraft von Gewerkschaften und fortschrittlichen Bewegungen hat schon damals darüber entschieden, ob die Regierungen den Personalmangel gemildert oder verschärft haben.

Nachdem auch die Bundesregierung hatte einsehen müssen, dass die Krankenhäuser zu wenig Geld bekommen, änderte sie 1972 das System der Abrechnung: Mit den Krankenhausentgeltgesetz führte sie das so genannte Selbstkostendeckungsprinzip ein. Die Krankenhäuser erhielten damit die entstandenen Personalkosten von der Krankenkasse vergütet. Dies führte dazu, dass von 1970 bis 1993 in den Krankenhäusern insgesamt 110 000 zusätzliche Pflegestellen geschaffen wurden.

Den Bedarf ermitteln

Dennoch war das Personal angesichts des gestiegenen Alters der Patienten und schwererer Mehrfacherkrankungen nicht ausreichend. 1993 protestierten und streikten die Beschäftigten in Massen – und trugen damit dazu bei, dass die „Pflegepersonalregelung“ (PPR) eingeführt wurde. Diese Regelung teilte die Patienten in Pflegestufen ein, die sowohl die allgemeine Pflege als auch die spezielle Behandlungspflege berücksichtigten. Diesen Stufen wurden Minutenwerte zugeordnet, die zur Pflege des jeweiligen Patienten nötig sind. Somit gab es erstmals ein Instrument zur Bemessung des Pflegebedarfs und damit zur Personalbemessung. Die Pflegepersonalregelung war aber noch keine gesetzlich verbindliche Personalbemessung, da sie lediglich vorsah, dass die Minutenwerte Grundlage für die Budgetverhandlungen der Krankenhäuser mit den Krankenkassen waren. Trotzdem wurden auf der Basis dieser Regelungen innerhalb von drei Jahren 16 000 weitere Stellen für Pflegekräfte geschaffen. 1996 wurde damit der Höchststand von 305 000 Vollzeitstellen in der Pflege im Krankenhaus erzielt, der bis heute unerreicht bleibt.

Auf Grundlage der PPR war es damit zum ersten Mal möglich, zu berechnen, wie viele Pflegekräfte in den Krankenhäusern eigentlich gebraucht werden: 1993 waren es 350 000 – mehr, als jemals beschäftigt wurden. Selbst beim Höchststand 1996 fehlten bundesweit immer noch 45 000 Pflegekräfte.

Aber schon im selben Jahr gelang es den Kapitalvertretern, die PPR im Rahmen des allgemeinen Roll Back in der Sozialpolitik wieder abzuschaffen. In den folgenden vier Jahren wurden in den Kliniken 14 000 Stellen wieder abgeschafft. Gleichzeitig konstruierte die neoliberale Propaganda die Legende einer angeblichen Kostenexplosion im Gesundheitswesen und lieferte damit die ideologische Begründung für die Einführung der Fallpauschale.

Pauschale für Profit

Mit den Fallpauschalen werden die durchschnittlichen Behandlungskosten für einen Erkrankungsfall ermittelt. Das hört sich harmlos an. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – wo sie nur zum Kostenvergleich dient – wurde die Fallpauschale in der BRD als Instrument zur Abrechnung eingeführt. Das bedeutet, dass ein Krankenhaus für einen Patienten mit Blinddarmoperation eine feste Pauschale erhält – unabhängig davon, wie lange der Patient im Krankenhaus liegt und wie viel Behandlung und Pflege er tatsächlich erhält. Mit der Fallpauschale war es erstmalig möglich, Gewinne im Krankenhaus zu erwirtschaften. Die Hebel dafür sind relativ einfach: Personalabbau, Verkürzung der Liegedauer der Patienten, nur Behandlung von Menschen mit Erkrankungen, für die es lukrative Fallpauschalen gibt. Die praktischen Zahlen belegen, dass das Kapital genau dies auch getan hat: Von 2002 bis 2007, also in nur fünf Jahren, wurden in der Pflege 33 000 Stellen abgebaut. Die Verweildauer von Patienten hat sich von 14 Tagen auf 7,4 Tage nahezu halbiert. Und im Jahr 2017 war das Bundesgesundheitsministerium dazu gezwungen, die Fallpauschale für Hüft­endoprothesen und Bandscheibenoperationen zu senken, da zahlreiche Menschen operiert worden waren, bei denen es keine medizinische Indikation dafür gab. Die Fallpauschale produziert also nicht nur Mangelversorgung, sondern auch Fehlversorgung. Entscheidendes Kriterium sind nicht medizinische Gesichtspunkte, sondern ökonomische. Das Kapital nutzt die Möglichkeiten, die ihm die Fallpauschale bietet: Von den knapp 2000 Krankenhäusern in Deutschland betreiben private Träger inzwischen 720.

Pflege an der Untergrenze

Im vergangenen Jahr sah sich die Bundesregierung gezwungen zu handeln: Sie verabschiedete das „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ und die „Pflegepersonal-Untergrenzenverordnung“. Der Druck, den die Bewegung für Entlastung mit Streiks in Kliniken und politischen Aktionen gemacht hatte, war zu groß geworden.

In Teilen der Bevölkerung gelang es der Regierung damit, den Eindruck zu erwecken, sie würde sich des Problems annehmen. Aktionen wie dem Olympischen Brief, der von den mittlerweile mehr als 20 Bündnissen für mehr Personal im Krankenhaus initiiert wurde, ist es zu verdanken, dass sich diese Vorstellung nicht durchsetzen konnte. Denn ihre wichtigste Forderung findet sich in den neuen Gesetzen nicht wieder: Eine verbindliche Personalbemessung, die sich am Bedarf der Patienten orientiert.

Stattdessen hat die Regierung Untergrenzen festgelegt, die auf Basis des Ist-Zustandes, also des Pflegenotstands, ermittelt werden. Die Untergrenze liegt bei den schlechtesten 25 Prozent der Personalbesetzung und schreibt somit nur die unhaltbaren Zustände fest. Weiterhin ist sie ein Anreiz für die besser besetzten Krankenhäuser, Personal abzubauen, weil in der Praxis die Untergrenze schnell zur Obergrenze für die Besetzung wird, wie die Beschäftigten bereits jetzt leidvoll erfahren müssen. Zudem gelten die Untergrenzen nur für vier Fachabteilungen, die selbst ernannte Experten – Gesundheitsökonomen – als „pflegesensitiv“ eingestuft haben. Gemeint ist damit, dass ein größeres Risiko besteht, dass bei Personalmangel Komplikationen auftreten, wie zum Beispiel Wundliegen oder Lungenentzündungen. Folgt man der Verordnung, so gibt es kein Risiko für einen achtzigjährigen Patient auf einer Station für Innere Medizin, liegt er jedoch auf der Herzchirurgie, so ist er gefährdet und die Untergrenzen greifen. Das Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus fordert deshalb: „Keine Pflege an der Untergrenze“ und ersatzlose Streichung der Verordnung.

Angriff durch die Hintertür

Auch das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz bringt keine wirklichen Verbesserungen. Positiv ist, dass Tarifsteigerungen durch die Krankenkassen finanziert werden müssen und 2019 alle zusätzlichen Stellen in der Pflege voll finanziert werden. Außerdem sieht das Gesetz vor, dass die Kosten für das Pflegepersonal aus den Fallpauschalen herausgerechnet werden und jedes Krankenhaus ein eigenes Pflegebudget erhält, dass die Personalkosten deckt. Damit bestehen keine ökonomischen Anreize mehr, Personal einzusparen. Viele – auch fortschrittliche Kräfte – sahen in dieser Regelung den Anfang vom Ende der Fallpauschale. Der Pflegewissenschaftler Michael Simon wies jedoch bereits im Oktober 2018 auf dem Kongress des Bündnisses „Krankenhaus statt Fabrik“ in Stuttgart auf die Gefahr hin, dass mit den neuen Gesetzen durch die Hintertür eine Pflegepauschale eingeführt wird, die nach den gleichen Prinzipien funktioniert wie die Fallpauschalen. Und seine Annahme bestätigt sich. Der einzige Unterschied zwischen Pflegebudget und Abrechnung nach Fallpauschale besteht darin, dass zum jetzigen Zeitpunkt für jedes Krankenhaus ein individueller „Pflegentgeltwert“ vereinbart wird und somit die Personalkosten für die Pflege gedeckt werden. Vereinheitlicht man diesen Wert für eine Region oder ein Bundesland, so ist man wieder beim System der Pauschalen mit den oben ausgeführten Auswirkungen.

Schaut man genau hin, so sind die Gesetze nicht nur keine Verbesserung, sondern ein weiterer Angriff auf unsere Gesundheitsversorgung. Auf den Internetseiten des Bundesgesundheitsministeriums hieß es wohltönend, man wolle gute Pflege. Im Gesetz jedoch steht, dass die Krankenhäuser nur so besetzt sein müssen, dass eine „nicht patientengefährdende pflegerische Versorgung noch gewährleistet ist“.

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"Rollback bis zur Untergrenze", UZ vom 10. Mai 2019



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