Inmitten des 1.Weltkrieges veröffentlichte „Die Aktion“, eine von Franz Pfemfert in Berlin herausgegebene Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, diverse Sonderhefte, in denen humanistisches Ideengut von Autoren aus „Feindesländern“ (Russland, England, Frankreich …) zu lesen war. Der Editor des Blattes, in dem unter anderem Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Max Brod, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Else Lasker-Schüler, Rudolf Leonhard, Heinrich Mann, Erich Mühsam, Erwin Piscator, Ernst Toller, Franz Werfel schrieben und Grafiken von Lyonel Feininger, George Grosz, Franz Marc, Felix Müller, Egon Schiele oder Karl Schmidt-Rottluff erschienen, wandte sich mit diesen Drucken gegen die kriegsbesoffene deutsche Bürgerpresse und die allgegenwärtige Verachtung der Kulturen der kriegsgegnerischen Nationen. „Die Aktion“ hielt dafür, dass es nur eine Weltkultur gibt und jede Nationalkultur ohne Bezüge zu den anderen verarmen muss. Gerade in Kriegszeiten sollte das an humanistischer Weltbildung gereifte Bewusstsein eine Brücke zur Wiedererlangung humanitärer Völkerverbindungen, hin zum Frieden sein. Noch heute möchte man denken, jede aufgeklärte Intelligenz muss auf dem Boden einer solchen Einsicht stehen.
Im Juni besuchte die Ampel-Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, Odessa. Schon damals verkündete sie sinngemäß, was sie gegenüber ihrem Kiewer Amtskollegen bei dessen späteren Berlinaufenthalt wiederholte: „Wir werden weiterhin nach allen Kräften ukrainische Kultur schützen … (und) auch in Zukunft entschlossen gegen russische Propaganda und Desinformation vorgehen.“ Kein Wort von ihr über das Verbot der russischen Sprache, die Schleifung von Denkmälern oder die Umbenennung von Straßen, die die Namen russischer Dichter trugen, als wäre das dem Schutz ukrainischer Kultur zuträglich.
Und Schweigen auch über einen Vorfall, der Wochen vor Roths Reise bekannt geworden war und über den die „Kulturhüterin“ bei funktionierender Amtsführung informiert gewesen sein musste. Kiews Ministerium für Kultur und Informationspolitik hatte verlautbart, dass es an der Entfernung russischer Literatur aus den Bibliotheken arbeite. In einem Gespräch mit „Interfax-Ukraina“ nannte die Direktorin des ukrainischen Buchinstituts diese Kulturvernichtung, die rund 100 Millionen Bände betreffen soll, überfällig. Sie argumentierte in einem Stil, der in Deutschland schlimmste Erinnerungen wecken muss. Die „Extraktion“ solle in mehreren Stufen vor sich gehen. Zunächst die Bücher „antiukrainischen Inhalts“. Unklar, was das umfassen mag, aber die Exorzistin sagt, auch die russischen Klassiker seien nicht ausgenommen. Eine zweite „Extraktionsrunde“ sortiere nach 1991 erschienene Bücher zeitgenössischer russischer Autoren aus, auch Kinder, Liebes- und Detektivgeschichten. Die russischen Klassiker indes mache so verstörend, „dass sie die Mentalität der Russen beeinflusst … und … indirekt zu …Versuchen geführt haben, alle anderen Völker der Welt, einschließlich des ukrainischen, zu entmenschlichen“. Die Schnelligkeit, mit der die Bücher beseitigt werden könnten, sei noch nicht abzusehen. Solche Verlautbarungen am Licht, und eine deutsche Kulturstaatsministerin empört sich nicht lauthals gegen solche Barbarei und lässt in den Medien Dampf ab? Und sie macht die Zusage von 20 Millionen Euro aus ihrem Etat für den Schutz ukrainischer Kultur nicht vom Schutz des russischen Teils der Weltliteratur abhängig?
Ach, Rio, wo sind die Grünen, für die du einst Wahlkampf gemacht hast, hingeraten? Sei mal König von Deutschland und erklär deiner alten Managerin Claudia, was sie sich in den Amtsstuben der Politik weggesessen haben muss: Die Verteidigung der ganzen Weltkultur ist ein unerlässliches Friedenswerk!
Während ich das schreibe, erklingt für die im Kampf gegen Hitlers Horden gefallenen Rotarmisten auf dem Wolgograder Mamajew-Hügel Schumanns „Träumerei“.