Wir müssen vor die Lage kommen“, ist der Standardsatz in polizeilichen Einsatzbesprechungen. Die gesamte Polizeiarbeit, sowohl präventiv – „Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ –, wie auch repressiv – Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten –, gehorcht seit etwa zehn Jahren diesem Leitsatz. Was verbirgt sich dahinter? Weit bevor überhaupt eine Situation eintritt, die polizeiliches Handeln erforderlich macht („die Lage“) – sei es eine begangene Straftat, die Ermittlung und Verfolgung vermeintlicher Täter oder eine sich gerade realisierende Gefahr für „Sicherheit und Ordnung“ –, soll vorausschauende Polizeiarbeit („predictive policing“) dafür sorgen, dass Rechtsverletzungen unterbleiben oder Gefahren gar nicht erst entstehen.
Ein Überblick über die Änderungen der Polizeigesetze der letzten fünf Jahre macht deutlich, was Innenministerien und Polizeiführung unter „moderner Prävention“ verstehen. Es geht um den Einsatz von Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Erkundung der Privatsphäre durch Body-Cams, Erhebung von Verkehrs- und Bewegungsdaten unter anderem durch Handyüberwachung und Onlinedurchsuchungen mittels „Staatstrojanern“. Es geht um Zentralisierung der Datensammlung und -auswertung, das Niederreißen der Trennung zwischen polizeilichen und geheimdienstlichen Befugnissen und die Schaffung neuer Kontroll- und Festhaltebefugnisse durch Präventivgewahrsam, Fußfesseln, Aufenthaltsge– und -verbote und Drohnenüberwachung. Es geht um Militarisierung der Ausrüstung – Maschinenpistolen, Explosivmittel, Distanzwaffen und Handgranaten – und Ausweitung der rechtlichen Einsatzbefugnisse durch Verwässerung des Gefahrenbegriffs bis hin zu dessen Unkenntlichkeit.
Rechtsbrecher sind quasi vogelfrei
Was im präventiven Bereich die Erweiterung des traditionellen „Störer“-Begriffs ist, nämlich der Entwurf einer dem Störer vorgelagerten „Gefährder“-Typologie, ist im Bereich des Strafrechts und der Strafprozessordnung das Modell des „Feindstrafrechts“. Der einer Straftat Verdächtigte ist nicht mehr länger ein Subjekt des Verfahrens mit eigenen Rechten, in der Strafrechtswissenschaft gern als Modell des „Bürgerstrafrechts“ bezeichnet, sondern wird als Gegner der staatlichen Ordnung, als deren Feind, angesehen. Als eine Quelle der Gefahr, die es zu beseitigen und nicht nur zu kontrollieren oder in die Gesellschaft zu reintegrieren gilt.
Der Strafrechtswissenschaftler Günther Jakobs beschreibt es als „Übergang von einem Normgeltung erhaltenden Strafrecht, üblicherweise Schuldstrafrecht genannt, zu einem Strafrecht als Maßnahmenrecht bei drohenden Gefahren“. Schuld und Tatprinzip werden über Bord geworfen. Zentral ist die Bekämpfung von Gefährdungen. Der Rechtsbrecher ist quasi vogelfrei. Kriminalpolitisch ist hier die Rede vom Risikostrafrecht, die Feindbegriffe von Thomas Hobbes (Man straft nicht, „weil sie schlechte Bürger, sondern weil sie Staatsfeinde sind, und nicht nach dem Rechte der Herrschaft, sondern nach dem Kriegsrecht“) und Carl Schmitt (Der Rechtsbrecher als „existentieller Gegner“ der Ordnung) werden zu Ende gedacht und erweisen sich als ideale Rezeptur für die Klassenjustiz.
Die noch zu Beginn der 1970er Jahre mehrheitlich an deutschen Hochschulen vorherrschende Absage an die ausufernde Machtfülle strafrechtlicher Verfolgung (Strafrecht kann nur ultima ratio sein) ist vergessen. Längst laufen Programme, wie die Polizeikonzeption „Polizei2020“ oder der auf Justiz und Strafverfolgung zugeschnittene „Pakt für den Rechtsstaat“, der auch Eingang in den jüngsten Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD gefunden hat, auf Hochtouren. Im materiellen Strafrecht werden aus den traditionellen Verletzungstatbeständen konkrete Gefährdungsdelikte, aus konkreten Gefährdungsdelikten werden abstrakte Gefährdungsdelikte. Die Aufnahme neuer Straftatbestände in das Nebenstrafrecht boomt.
Corona-Pandemie macht es möglich
Im Strafgesetzbuch wird die Versuchsstrafbarkeit ausgeweitet und die Ahndung der Vorbereitung, eine Phase, die noch dem Versuch vorgelagert ist, forciert. Die Entwicklung im Strafverfahrensrecht begleitet diese Tendenz: Beschneidung von Beweisantragsrechten, Kappung von Rechtsmittelmöglichkeiten, Erschwerung von Befangenheitsanträgen und die Verlagerung der Sachverhaltsfeststellungen weg von den Gerichten hin zur Kriminalpolizei im Sinne einer angestrebten Allmacht der Exekutive fräsen breite Schneisen in die bisher noch vorhandenen Verfahrensrechte.
In der Corona-Pandemie hat das Regierungshandeln eindrucksvoll vor Augen geführt, wie auch das Grundgesetz ganz einfach kaltgestellt werden kann. Es braucht nicht mehr den mühseligen Weg über parlamentarische Mehrheiten zu Grundgesetzänderungen – wie anlässlich der Notstandsgesetze vom Frühsommer 1968. Ein auf die Hälfte geschrumpftes Notparlament stattet einstimmig einen Fachminister mit der Ermächtigung aus, seuchenpolizeiliche Rechtsverordnungen zu erlassen, die zum Beispiel das Versammlungsrecht auf Null herunterfahren – ein verfassungsrechtlicher Lockdown sondergleichen.
Mitläuferfabrik anstelle von Entnazifizierung
Die föderative Verfassung der Bundesrepublik, also die im Grundgesetz verfügte dezentrale Zuständigkeit der Bundesländer für das Polizeiwesen, war nur für wenige Jahre ein Hindernis zum Ausbau eines zentral befehligten Polizeiapparats. Als eigentlich zentrales Werkzeug der Macht im bürgerlichen Staat ist die Polizei im Grundgesetz gleichwohl nicht direkt angesprochen. „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ (Art. 30 Grundgesetz) als auch die Gesetzgebung (Art. 70 GG) sind vornehmlich Sache der Länder. Juristisch gewendet heißt das: Im Bereich der inneren Sicherheit gilt eine „Zuständigkeitsvermutung“ zugunsten der Bundesländer.
Schon am Tag der Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945 trat in der britischen Zone die von der „Public Safety Branch“ erlassene „Richtlinie für die deutsche Polizei“ in Kraft. Am 25. September 1945 wurde sie durch die „Military Government Instruction on the Reorganisation of German Police System“ ergänzt. Diese Verordnungen gehorchten der Idee, einerseits deutsche Polizeikräfte neben alliierten Instanzen aufzubauen, andererseits zu verhindern, dass sich deutsche Polizeiformationen verselbstständigen könnten. Die Polizeieinheiten waren fortan durchweg auf Stadt- und Landkreisebene organisiert. Dies verhinderte indes nicht, dass tausende SS-, SD-, Gestapo- und Wehrmachtsangehörige in diesen Verbänden eine neue Heimstatt fanden. Von einer „Entnazifizierung“ konnte nicht gesprochen werden, im Gegenteil: Lutz Niethammer bezeichnet in seiner gleichnamigen Untersuchung aus dem Jahr 1994 die Polizeieinheiten jener Jahre als „Mitläuferfabrik“. Norbert Steinborn und Karin Schanzenbach sprechen 1990 in ihrem Buch zur Hamburger Polizei gar von der „Renazifizierung“.
Mit Gründung der Bundesrepublik wurde der kommunale Status der Polizei nach und nach beseitigt, die Polizeiorganisation in die Hände der Länderinnenmister gegeben. Ab dem Jahr 1951 bereits verfügte die Polizei mit der Bereitschaftspolizei (BePo) wieder über kasernierte Einheiten. Mit der Gründung des Bundeskriminalamtes (BKA) im gleichen Jahr fiel der Startschuss für die Vereinheitlichung und Zentralisierung des Polizeiwesens. Nach außen hin sollte das föderale Aushängeschild unbeeinträchtigt sichtbar sein. Anderseits war das deutsche Monopolkapital gerade auch nach der erfolgreich – entgegen dem Potsdamer Abkommen und der alliierten Kontrollratsbeschlüsse – durchgeführten Wiederbewaffnung und der Schaffung der Bundeswehr, 1956, vordergründig an einer Zentralisierung der bewaffneten Ordnungskräfte interessiert. Man behalf sich mit einem Konstrukt, um weiterhin den schönen Schein des Föderalismus als vermeintlicher Idee dezentraler, balancierter und kontrollierter Gewalt aufrechtzuerhalten und dennoch ein Höchstmaß an polizeistaatlicher Effizienz zu erreichen.
Innenministerkonferenz gibt den Takt an
Das Mittel der Wahl war die Schaffung einer Institution, die stets betont, sie sei keine: die Innenministerkonferenz (IMK). Sie nahm 1954 ihre Arbeit auf und tagt seitdem zweimal im Jahr. Das Bundesinnenministerium ist zwar nur „Gast“, eröffnet aber jede Sitzung mit einem wegweisenden Einführungsvortrag. Das Gremium hat weder Satzung noch Geschäftsordnung, keine Organe und keinen rechtlichen Status. Es kann nicht mit etwaigen Rechtsmitteln Betroffener belangt werden, diktiert aber seit 66 Jahren alles, was auf dem Gebiet der Polizei in den Ländern, im Bund und auch im europäischen Verbund zum Beispiel bei Interpol geschieht. Seine sechs Arbeitskreise (AK) tagen auch zwischen den halbjährlichen Zusammenkünften, genau wie die jeweils gebildeten Unterausschüsse. Für polizeiliche Angelegenheiten sind der AK II „Sicherheit und Ordnung“ und der AK IV „Verfassungsschutz“ zuständig.
Die Fortschreibung der Länderpolizeigesetze entspricht den Arbeitspapieren, die die IMK verabschiedet, so zum Beispiel das „Programm Innere Sicherheit“ von 1974 und dessen Neuauflage 1994. Zentrales Zielpapier des möglichst gleichgeordneten vereinheitlichten Umbaus der Länderpolizeien ist der „Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz“ von 1972. Der Begriff „Musterentwurf“ ist eine doppelte Verniedlichung. Sie soll suggerieren, es gehe nur um ein „Muster“ und sowieso nur um einen „Entwurf“. Dieser hat es aber in sich: Er ist die Blaupause für alle Verschärfungen der Länderpolizeigesetze, gleich ob es um Ausbau der Telekommunikationsüberwachung, Online-Durchsuchungen, Bewaffnung oder Präventivgewahrsam geht. Ziel ist stets: „Harmonisierungsbemühungen stärken und Regelungslücken schließen“ („Die Kriminalpolizei“ 9/2018).
Wozu braucht die Polizei Sturmgewehre?
Längst als Märchen entlarvt ist die von den Innenministern gern kolportierte These, der Ausbau des Polizeiapparats hänge mit dem „dramatischen Lagebild Kriminalität“ zusammen. Folgt man der Polizeilichen Kriminalstatistik, sinkt die Kriminalitätsrate seit 2015 stetig und das, obwohl die Straftatbestände ausgeweitet wurden. Wozu braucht also eine Streifenwagenbesatzung Maschinenpistolen, Sprengmittel und Handgranaten? Wozu orderte die Berliner BePO in 2018 300 Sturmgewehre? Wieso braucht die Brandenburger Polizei für ihre Maschinenpistolen vom Typ MP7 NATO-Munition mit erhöhter Durchschlagskraft? Vor einhundert Jahren erlaubte sich der Soziologe Max Weber die Bemerkung „Stets ist die Frage: wer beherrscht den bestehenden bureaukratischen Apparat“ (Wirtschaft und Gesellschaft, 1921). Lenin gab die Antwort schon wenige Jahre zuvor: „Die Polizei bleibt unter der Herrschaft der Bourgeoisie in jeder demokratischen Republik unvermeidlich ihr zuverlässigstes Werkzeug“ (Lenin, Werke Bd. 24, 347).
Baukasten für die Länder
Im Sommer 2017 fasste die Innenministerkonferenz (IMK) den Beschluss, die Arbeiten am „Musterentwurf zu einem einheitlichen Polizeigesetz“ (MEPolG) wieder aufzunehmen. Für die Ausarbeitung ist der Arbeitskreis II der IMK zuständig. Im Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 heißt es: „Wir wollen keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Deutschland. Dazu gehört die Erarbeitung eines gemeinsamen Musterpolizeigesetzes.“
Im Rahmen der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der FDP-Fraktion (DrS 19/6074) vom November 2018, die das Schicksal des MEPolG zum Gegenstand hatte, hielt sich die Bundesregierung über konkrete Inhalte des MEPolG auffällig bedeckt: Man erfährt lediglich, dass die Arbeitsgruppen nach „Musterformulierungen“ suchen und dass eine „Beteiligung des Deutschen Bundestages beziehungsweise des Innenausschusses nicht vorgesehen“ sei. Das MEPolG solle als „Orientierungsrahmen, aber auch Baukasten für künftige polizeirechtliche Gesetzgebungsvorhaben“ dienen.
Die Sache mit dem Baukasten hat bisher gut geklappt: Paragraph 36 MEPolG (alte Fassung) sah als Standardbewaffnung der Polizei vor: „Schlagstock, Pistole, Revolver, Gewehr, Maschinenpistole, Maschinengewehr und Handgranate“. Dieses Waffenarsenal hat sich mittlerweile in fast allen Bundesländern durchgesetzt, die grün-schwarze Koalition in Baden-Württemberg hat nun auch im neuen Paragraph 54a PolGBW ihre Liebe zu den Sprengmitteln entdeckt.