Der deutsche Bauernkrieg – Teil 4: Müntzers Saat in Süddeutschland

Revolutionäre Propheten

Friedrich Engels

Vor 500 Jahren erhoben sich die Bauern in Deutschland. Aus diesem Anlass drucken wir in UZ Friedrich Engels Werk „Der deutsche Bauernkrieg“ in Auszügen ab. In den bisherigen Teilen ging es um die soziale Lage und die daraus entstehenden Klassenkämpfe zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte hatte sich das feudalistische System ökonomisch überlebt. Fürsten und katholische Kirche vermehrten ihren Reichtum zulasten der gesamten Gesellschaft, besonders der Bauern. Die Rolle der Städte und der dortigen Produktion gewann immer mehr Bedeutung. Dort bildete sich eine Oberschicht, die zunehmend Macht erlangte. Sie geriet vor allem mit der Kirchenhierarchie in Konflikt, deren Macht die aufstrebende Bourgeoisie einschränken wollte. Für die Bauern und die städtischen Unterschichten, die Plebejer, war durch den Übergang der politischen Macht von einer herrschenden Klasse an eine neue nichts zu gewinnen. Ideologisch konnten die gesellschaftlichen Widersprüche nicht anders als religiös verarbeitet werden: Die Bibel war die einzige zur Verfügung stehende weltanschauliche Grundlage. Die Klassenkämpfe erschienen als theologische Auseinandersetzungen zwischen dem Reformator Martin Luther und dem Revolutionär Thomas Müntzer. Luther stand für die Interessen der heranreifenden Bourgeoisie und stärkte vor allem die Macht der regionalen Fürsten. In Müntzers Wirken wuchs die frühbürgerliche Revolution über sich hinaus in eine soziale Revolution. Die Produktivkräfte waren allerdings noch nicht reif für die Gütergemeinschaft.

Seine (Thomas Müntzers – UZ) theologisch-philosophische Doktrin griff alle Hauptpunkte nicht nur des Katholizismus, sondern des Christentums überhaupt an. Er lehrte unter christlichen Formen einen Pantheismus, der mit der modernen spekulativen Anschauungsweise eine merkwürdige Ähnlichkeit hat und stellenweise sogar an Atheismus anstreift. Er verwarf die Bibel sowohl als ausschließliche wie als unfehlbare Offenbarung. Die eigentliche, die lebendige Offenbarung sei die Vernunft, eine Offenbarung, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern existiert habe und noch existiere. Der Vernunft die Bibel entgegenhalten, heiße den Geist durch den Buchstaben töten. Denn der Heilige Geist, von dem die Bibel spreche, sei nichts außer uns Existierendes; der Heilige Geist sei eben die Vernunft. Der Glaube sei nichts anderes als das Lebendigwerden der Vernunft im Menschen, und daher könnten auch die Heiden den Glauben haben. Durch diesen Glauben, durch die lebendig gewordene Vernunft werde der Mensch vergöttlicht und selig. Der Himmel sei daher nichts Jenseitiges, er sei in diesem Leben zu suchen, und der Beruf der Gläubigen sei, diesen Himmel, das Reich Gottes, hier auf der Erde herzustellen. Wie keinen jenseitigen Himmel, so gebe es auch keine jenseitige Hölle oder Verdammnis. Ebenso gebe es keinen Teufel als die bösen Lüste und Begierden der Menschen. Christus sei ein Mensch gewesen wie wir, ein Prophet und Lehrer, und sein Abendmahl sei ein einfaches Gedächtnismahl, worin Brot und Wein ohne weitere mystische Zutat genossen werde.

Diese Lehren predigte Müntzer meist versteckt unter denselben christlichen Redeweisen, unter denen sich die neuere Philosophie eine Zeitlang verstecken musste. Aber der erzketzerische Grundgedanke blickt überall aus seinen Schriften hervor, und man sieht, dass es ihm mit dem biblischen Deckmantel weit weniger ernst war als manchem Schüler Hegels in neuerer Zeit. Und doch liegen dreihundert Jahre zwischen Müntzer und der modernen Philosophie.

Müntzers Programm

Seine politische Doktrin schloss sich genau an diese revolutionäre religiöse Anschauungsweise an und griff ebenso weit über die unmittelbar vorliegenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hinaus wie seine Theologie über die geltenden Vorstellungen seiner Zeit. Wie Müntzers Religionsphilosophie an den Atheismus, so streifte sein politisches Programm an den Kommunismus, und mehr als eine moderne kommunistische Sekte hatte noch am Vorabend der Februarrevolution über kein reichhaltigeres theoretisches Arsenal zu verfügen als die „Müntzerschen“ des sechzehnten Jahrhunderts. Dies Programm, weniger die Zusammenfassung der Forderungen der damaligen Plebejer als die geniale Antizipation der Emanzipationsbedingungen der kaum sich entwickelnden proletarischen Elemente unter diesen Plebejern – dies Programm forderte die sofortige Herstellung des Reiches Gottes, des prophezeiten Tausendjährigen Reichs auf Erden, durch Zurückführung der Kirche auf ihren Ursprung und Beseitigung aller Institutionen, die mit dieser angeblich urchristlichen, in Wirklichkeit aber sehr neuen Kirche in Widerspruch standen. Unter dem Reich Gottes verstand Müntzer aber nichts anderes als einen Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern gegenüber selbstständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehen. Sämtliche bestehenden Gewalten, sofern sie nicht sich fügen und der Revolution anschließen wollten, sollten gestürzt, alle Arbeiten und alle Güter gemeinsam und die vollständigste Gleichheit durchgeführt werden. Ein Bund sollte gestiftet werden, um dies durchzusetzen, nicht nur über ganz Deutschland, sondern über die ganze Christenheit; Fürsten und Herren sollten eingeladen werden, sich anzuschließen; wo nicht, sollte der Bund sie bei der ersten Gelegenheit mit den Waffen in der Hand stürzen oder töten.

Vorbereitung

Müntzer setzte sich gleich daran, diesen Bund zu organisieren. Seine Predigten nahmen einen noch heftigeren, revolutionäreren Charakter an; neben den Angriffen auf die Pfaffen donnerte er mit gleicher Leidenschaft gegen die Fürsten, den Adel, das Patriziat, schilderte er in glühenden Farben den bestehenden Druck und hielt dagegen sein Phantasiebild des Tausendjährigen Reichs der sozial-republikanischen Gleichheit. Zugleich veröffentlichte er ein revolutionäres Pamphlet nach dem andern und sandte Emissäre nach allen Richtungen aus, während er selbst den Bund in Allstedt und der Umgegend organisierte.

Die erste Frucht dieser Propaganda war die Zerstörung der Marienkapelle zu Mellerbach bei Allstedt, nach dem Gebot: „Ihre Altäre sollt ihr zerreißen, ihre Säulen zerbrechen und ihre Götzen mit Feuer verbrennen, denn ihr seid ein heilig Volk“ (Deut. 7, 6). Die sächsischen Fürsten kamen selbst nach Allstedt, um den Aufruhr zu stillen, und ließen Müntzer aufs Schloss rufen. Dort hielt er eine Predigt, wie sie deren von Luther, „dem sanftlebenden Fleisch zu Wittenberg“, wie Müntzer ihn nannte, nicht gewohnt waren. Er bestand darauf, dass die gottlosen Regenten, besonders Pfaffen und Mönche, die das Evangelium als Ketzerei behandeln, getötet werden müssten, und berief sich dafür aufs Neue Testament. Die Gottlosen hätten kein Recht zu leben, es sei denn durch die Gnade der Auserwählten. Wenn die Fürsten die Gottlosen nicht vertilgen, so werde Gott ihnen das Schwert nehmen, denn die ganze Gemeinde habe die Gewalt des Schwerts. Die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei seien die Fürsten und Herren; sie nehmen alle Kreaturen zum Eigentum, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden. Und dann predigen sie gar noch den Armen das Gebot: Du sollst nicht stehlen, sie selber aber nehmen, wo sie‘s finden, schinden und schaben den Bauern und den Handwerker; wo aber dieser am Allergeringsten sich vergreife, so müsse er hängen, und zu dem allen sage dann der Doktor Lügner: Amen.

„Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann es in die Länge gut werden? Ach, liebe Herren, wie hübsch wird der Herr unter die alten Töpfe schmeißen mit einer eisernen Stange! So ich das sage, werde ich aufrührisch sein. Wohl hin!“ (Vergleiche Zimmermann, „Bauernkrieg“, II, S. 75)

Müntzer ließ die Predigt drucken; sein Drucker in Allstedt wurde zur Strafe vom Herzog Johann von Sachsen gezwungen, das Land zu verlassen, und ihm selbst wurde für alle seine Schriften die Zensur der herzoglichen Regierung zu Weimar auferlegt. Aber diesen Befehl achtete er nicht.

Getrennte Wege

Der Bruch Müntzers mit Luther und seiner Partei war schon lange vorhanden. Luther hatte manche Kirchenreformen selbst annehmen müssen, die Müntzer, ohne ihn zu fragen, eingeführt hatte. Er beobachtete Müntzers Tätigkeit mit dem ärgerlichen Misstrauen des gemäßigten Reformers gegen die energischere, weitertreibende Partei. Schon im Frühjahr 1524 hatte Müntzer an Melanchthon, dieses Urbild des philiströsen, hektischen Stubenhockers, geschrieben, er und Luther verständen die Bewegung gar nicht. Sie suchten sie im biblischen Buchstabenglauben zu ersticken, ihre ganze Doktrin sei wurmstichig.

Luther fordert Müntzer mehr als einmal zur Disputation heraus; aber dieser, bereit, den Kampf jeden Augenblick vor dem Volk aufzunehmen, hatte nicht die geringste Lust, sich in eine theologische Zänkerei vor dem parteiischen Publikum der Wittenberger Universität einzulassen. Er wollte „das Zeugnis des Geistes nicht ausschließlich auf die hohe Schule bringen“. Wenn Luther aufrichtig sei, so solle er seinen Einfluss dahin verwenden, dass die Schikanen gegen Müntzers Drucker und das Gebot der Zensur aufhörten, damit der Kampf ungehindert in der Presse ausgefochten werden könne.
Jetzt, nach der erwähnten revolutionären Broschüre Müntzers, trat Luther öffentlich als Denunziant gegen ihn auf. In seinem gedruckten „Brief an die Fürsten zu Sachsen wider den aufrührerischen Geist“ erklärte er Müntzer für ein Werkzeug des Satans und forderte die Fürsten auf, einzuschreiten und die Anstifter des Aufruhrs zum Lande hinauszujagen, da sie sich nicht begnügen, ihre schlimmen Lehren zu predigen, sondern zum Aufstand und zur gewaltsamen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit aufrufen.

Repression und wachsende Bewegung

Am 1. August musste Müntzer sich vor den Fürsten auf dem Schloss zu Weimar gegen die Anklage aufrührerischer Umtriebe verantworten. Es lagen höchst kompromittierende Tatsachen gegen ihn vor; man war seinem geheimen Bund auf die Spur gekommen, man hatte in den Verbindungen der Bergknappen und Bauern seine Hand entdeckt. Man bedrohte ihn mit Verbannung. Kaum nach Allstedt zurück, erfuhr er, dass Herzog Georg von Sachsen seine Auslieferung verlangte; Bundesbriefe von seiner Handschrift waren aufgefangen worden, worin er Georgs Untertanen zu bewaffnetem Widerstand gegen die Feinde des Evangeliums aufforderte. Der Rat hätte ihn ausgeliefert, wenn er nicht die Stadt verlassen hätte.

Inzwischen hatte die steigende Agitation unter Bauern und Plebejern die Müntzersche Propaganda ungemein erleichtert. Für diese Propaganda hatte er an den Wiedertäufern unschätzbare Agenten gewonnen. Diese Sekte, ohne bestimmte positive Dogmen, zusammengehalten nur durch ihre gemeinsame Opposition gegen alle herrschenden Klassen und durch das gemeinsame Symbol der Wiedertaufe, asketisch-streng im Lebenswandel, unermüdlich, fanatisch und unerschrocken in der Agitation, hatte sich mehr und mehr um Müntzer gruppiert. Durch die Verfolgungen von jedem festen Wohnsitz ausgeschlossen, streifte sie über ganz Deutschland und verkündete überall die neue Lehre, in der Müntzer ihnen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche klargemacht hatte. Unzählige wurden gefoltert, verbrannt oder sonst hingerichtet, aber der Mut und die Ausdauer dieser Emissäre war unerschütterlich, und der Erfolg ihrer Tätigkeit, bei der schnell wachsenden Aufregung des Volks, war unermesslich. Daher fand Müntzer bei seiner Flucht aus Thüringen den Boden überall vorbereitet, er mochte sich hinwenden, wohin er wollte.

Im Süden

Bei Nürnberg, wohin Müntzer zuerst ging, war kaum einen Monat vorher ein Bauernaufstand im Keime erstickt worden. Müntzer agitierte hier im Stillen; bald traten Leute auf, die seine kühnsten theologischen Sätze von der Unverbindlichkeit der Bibel und der Nichtigkeit der Sakramente verteidigten, Christus für einen bloßen Menschen und die Gewalt der weltlichen Obrigkeit für ungöttlich erklärten. „Da sieht man den Satan umgehn, den Geist aus Allstedt!“, rief Luther. Hier in Nürnberg ließ Müntzer seine Antwort an Luther drucken. Er klagte ihn geradezu an, dass er den Fürsten heuchle und die reaktionäre Partei mit seiner Halbheit unterstütze. Aber das Volk werde trotzdem frei werden, und dem Doktor Luther werde es dann gehen wie einem gefangenen Fuchs. – Die Schrift wurde von Rats wegen mit Beschlag belegt, und Müntzer musste Nürnberg verlassen.

Er ging jetzt durch Schwaben nach dem Elsass, der Schweiz und zurück nach dem oberen Schwarzwald, wo schon seit einigen Monaten der Aufstand ausgebrochen war, beschleunigt zum großen Teil durch seine wiedertäuferischen Emissäre. Diese Propagandareise Müntzers hat offenbar zur Organisation der Volkspartei, zur klaren Feststellung ihrer Forderungen und zum endlichen allgemeinen Ausbruch des Aufstandes im April 1525 wesentlich beigetragen. Die doppelte Wirksamkeit Müntzers, einerseits für das Volk, dem er in der ihm damals allein verständlichen Sprache des religiösen Prophetismus zuredete, und andrerseits für die Eingeweihten, gegen die er sich offen über seine schließliche Tendenz aussprechen konnte, tritt hier besonders deutlich hervor. Hatte er schon früher in Thüringen einen Kreis der entschiedensten Leute, nicht nur aus dem Volk, sondern auch aus der niedrigen Geistlichkeit, um sich versammelt und an die Spitze der geheimen Verbindung gestellt, so wird er hier der Mittelpunkt der ganzen revolutionären Bewegung von Südwestdeutschland, so organisiert er die Verbindung von Sachsen und Thüringen über Franken und Schwaben bis nach dem Elsass und der Schweizer Grenze und zählt die süddeutschen Agitatoren, wie Hubmaier in Waldshut, Konrad Grebel von Zürich, Franz Rabmann zu Grießen, Schappeler zu Memmingen, Jakob Wehe zu Leipheim, Doktor Mantel in Stuttgart, meist revolutionäre Pfarrer, unter seine Schüler und unter die Häupter des Bundes. Er selbst hielt sich meist in Grießen an der Schaffhausener Grenze auf und durchstreifte von da den Hegau, Klettgau et cetera. Die blutigen Verfolgungen, die die beunruhigten Fürsten und Herren überall gegen diese neue plebejische Ketzerei unternahmen, trugen nicht wenig dazu bei, den rebellischen Geist zu schüren und die Verbindung fester zusammenzuschließen. So agitierte Müntzer gegen fünf Monate in Oberdeutschland und ging um die Zeit, wo der Ausbruch der Verschwörung herannahte, wieder nach Thüringen zurück, wo er den Aufstand selbst leiten wollte und wo wir ihn wiederfinden werden.

5012 2560px Revolting peasants - Revolutionäre Propheten - 500 Jahre Bauernkrieg, Friedrich Engels, Martin Luther, Thomas Müntzer - Hintergrund
Bauern mit der Bundschuhfahne nehmen einen Adligen gefangen. Holzschnitt aus dem Jahr 1539. (Abbildung: gemeinfrei)

Wir werden sehen, wie treu der Charakter und das Auftreten der beiden Parteichefs die Haltung ihrer Parteien selbst widerspiegeln; wie die Unentschiedenheit, die Furcht vor der ernsthaft werdenden Bewegung selbst, die feige Fürstendienerei Luthers ganz der zaudernden, zweideutigen Politik der Bürgerschaft entsprach und wie die revolutionäre Energie und Entschlossenheit Müntzers in der entwickeltsten Fraktion der Plebejer und Bauern sich reproduzieren. Der Unterschied ist nur, dass, während Luther sich begnügte, die Vorstellungen und Wünsche der Majorität seiner Klasse auszusprechen und sich damit eine höchst wohlfeile Popularität bei ihr zu erwerben, Müntzer im Gegenteil weit über die unmittelbaren Vorstellungen und Ansprüche der Plebejer und Bauern hinausging und sich aus der Elite der vorgefundenen revolutionären Elemente erst eine Partei bildete, die übrigens, soweit sie auf der Höhe seiner Ideen stand und seine Energie teilte, immer nur eine kleine Minorität der insurgierten Masse blieb.

Die Vorläufer des großen Bauernkriegs

Im Bistum Würzburg entstand 1476 die erste Bauernverschwörung. Ein junger Hirte und Musikant, Hans Böheim von Niklashausen, auch Pauker und Pfeiferhänslein genannt, trat plötzlich im Taubergrund als Prophet auf. Er erzählte, die Jungfrau Maria sei ihm erschienen; sie habe ihm geboten, seine Pauke zu verbrennen, dem Tanz und den sündigen Wollüsten nicht ferner zu dienen, sondern das Volk zur Buße zu ermahnen. So solle denn jeder von seinen Sünden und von der eitlen Lust dieser Welt ablassen, allen Schmuck und Zierrat ablegen und zur Mutter Gottes von Niklashausen wallfahren, um die Vergebung seiner Sünden zu erlangen.

Wir finden schon hier, bei dem ersten Vorläufer der Bewegung, jenen Asketismus, den wir bei allen mittelalterlichen Aufständen mit religiöser Färbung und in der neueren Zeit im Anfang jeder proletarischen Bewegung antreffen. Diese asketische Sittenstrenge, diese Forderung der Lossagung von allen Lebensgenüssen und Vergnügungen stellt einerseits gegenüber den herrschenden Klassen das Prinzip der spartanischen Gleichheit auf und ist andrerseits eine notwendige Durchgangsstufe, ohne die die unterste Schicht der Gesellschaft sich nie in Bewegung setzen kann. Um ihre revolutionäre Energie zu entwickeln, um über ihre feindselige Stellung gegenüber allen andern Elementen der Gesellschaft sich selbst klarzuwerden, um sich als Klasse zu konzentrieren, muss sie damit anfangen, alles das von sich abzustreifen, was sie noch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung versöhnen könnte, muss sie den wenigen Genüssen entsagen, die ihr die unterdrückte Existenz noch momentan erträglich machen und die selbst der härteste Druck ihr nicht entreißen kann. Dieser plebejische und proletarische Asketismus unterscheidet sich sowohl seiner wild-fanatischen Form wie seinem Inhalt nach durchaus von dem bürgerlichen Asketismus, wie ihn die bürgerliche, lutherische Moral predigte, und dessen ganzes Geheimnis die bürgerliche Sparsamkeit ist. Es versteht sich übrigens, dass dieser plebejisch-proletarische Asketismus in demselben Maße seinen revolutionären Charakter verliert, in welchem einerseits die Entwicklung der modernen Produktivkräfte das Material des Genießens ins Unendliche vermehrt und damit die spartanische Gleichheit überflüssig macht und andrerseits die Lebensstellung des Proletariats und damit das Proletariat selbst immer revolutionärer wird. Er verschwindet dann allmählich aus der Masse und verläuft sich bei den Sektierern, die sich auf ihn steifen, entweder direkt in die bürgerliche Knickerei oder in ein hochtrabendes Tugendrittertum, das in der Praxis ebenfalls auf eine spießbürgerliche oder zunfthandwerkermäßige Knauserwirtschaft hinauskommt. Der Masse des Proletariats braucht die Entsagung um so weniger gepredigt zu werden, als sie fast nichts mehr hat, dem sie noch entsagen könnte.

Pfeiferhänslein

Die Bußpredigt Pfeiferhänsleins fand großen Anklang; alle Aufstandspropheten begannen mit ihr, und in der Tat konnte nur eine gewaltsame Anstrengung, eine plötzliche Lossagung von der ganzen gewohnten Daseinsweise dies zersplitterte, dünngesäete, in blinder Unterwerfung herangewachsene Bauerngeschlecht in Bewegung setzen. Die Wallfahrten nach Niklashausen begannen und nahmen rasch überhand; und je massenhafter das Volk hinströmte, desto offener sprach der junge Rebell seine Pläne aus. Die Mutter Gottes von Niklashausen habe ihm verkündet, predigte er, dass fortan kein Kaiser noch Fürst, noch Papst, noch andere geistliche oder weltliche Obrigkeit mehr sein sollte; ein jeder solle des andern Bruder sein, sein Brot mit seiner Hände Arbeit gewinnen und keiner mehr haben als der andere. Alle Zinsen, Gülten, Fronden, Zoll, Steuer und andre Abgaben und Leistungen sollten für ewig ab, und Wald, Wasser und Weide überall frei sein.

Das Volk nahm dies neue Evangelium mit Freuden auf. Rasch breitete sich der Ruhm des Propheten, „unsrer Frauen Botschaft“, in die Ferne aus; vom Odenwald, vom Main, Kocher und Jagst, ja von Bayern, Schwaben und vom Rhein zogen ihm Haufen von Pilgern zu. Man erzählte sich Wunder, die er getan haben sollte; man fiel auf die Knie vor ihm und betete ihn an wie einen Heiligen; man riss sich um die Zotteln von seiner Kappe, als ob es Reliquien und Amulette wären. Vergeblich traten die Pfaffen gegen ihn auf, schilderten seine Geschichte als Blendwerk des Teufels, seine Wunder als höllische Betrügereien. Die Masse der Gläubigen nahm reißend zu, die revolutionäre Sekte fing an sich zu bilden, die sonntäglichen Predigten des rebellischen Hirten riefen Versammlungen von 40.000 und mehr Menschen nach Niklashausen zusammen.

Mehrere Monate predigte Pfeiferhänslein vor den Massen. Aber er hatte nicht die Absicht, bei der Predigt zu bleiben. Er stand in geheimem Verkehr mit dem Pfarrer von Niklashausen und mit zwei Rittern, Kunz von Thunfeld und seinem Sohn, die zur neuen Lehre hielten und die militärischen Führer des beabsichtigten Aufstandes werden sollten. Endlich am Sonntag vor St. Kilian, als seine Macht groß genug zu sein schien, gab er das Signal.

„Und nun“, schloss er seine Predigt, „gehet heim und erwäget, was euch die allerheiligste Mutter Gottes verkündet hat; und lasset am nächsten Samstag Weiber und Kinder und Greise daheim bleiben, aber ihr, ihr Männer, kommet wieder her nach Niklashausen auf St. Margarethentag, das ist nächsten Samstag; und bringt mit eure Brüder und Freunde soviel ihrer sein mögen. Kommt aber nicht mit dem Pilgerstab, sondern angetan mit Wehr und Waffen, in der einen Hand die Wallkerze, in der andern Schwert und Spieß oder Hellebarde; und die heilige Jungfrau wird euch alsdann verkünden, was ihr Wille ist, das ihr tun sollt.“

Aber ehe die Bauern in Massen ankamen, hatten die Reiter des Bischofs Rudolf II. von Scherenberg den Aufruhrpropheten nächtlicherweile abgeholt und auf das Würzburger Schloss gebracht. Am bestimmten Tage kamen an 34.000 bewaffnete Bauern, aber diese Nachricht wirkte niederschlagend auf sie. Der größte Teil verlief sich; die Eingeweihteren hielten gegen 16.000 zusammen und zogen mit ihnen vor das Schloss, unter der Führung Kunzens von Thunfeld und Michaels, seines Sohnes. Der Bischof brachte sie durch Versprechungen wieder zum Abzug; aber kaum hatten sie angefangen sich zu zerstreuen, so wurden sie von des Bischofs Reitern überfallen und mehrere zu Gefangenen gemacht. Zwei wurden enthauptet, Pfeiferhänslein selbst aber wurde verbrannt. Kunz von Thunfeld wurde flüchtig und erst gegen Abtretung aller seiner Güter an das Stift wieder angenommen. Die Wallfahrten nach Niklashausen dauerten noch einige Zeit fort, wurden aber schließlich auch unterdrückt.

Nach diesem ersten Versuch blieb Deutschland wieder längere Zeit ruhig. Erst mit Ende der neunziger Jahre begannen neue Aufstände und Verschwörungen der Bauern.

Die Bundschuhfahne

1502 zeigten sich im Bistum Speyer, das damals auch die Gegend von Bruchsal umfasste, Zeichen einer geheimen Bewegung unter den Bauern. An 7.000 Männer waren in der Verbindung, deren Zentrum zu Untergrombach, zwischen Bruchsal und Weingarten, war und deren Verzweigungen sich den Rhein hinab bis an den Main, hinauf bis über die Markgrafschaft Baden erstreckten. Ihre Artikel enthielten: Es solle kein Zins noch Zehnt, Steuer oder Zoll mehr an Fürsten, Adel und Pfaffen gezahlt werden; die Leibeigenschaft soll abgetan sein, die Klöster und sonstigen geistlichen Güter eingezogen und unter das Volk verteilt und kein anderer Herr mehr anerkannt werden als der Kaiser.

Wir finden hier zum ersten Mal bei den Bauern die beiden Forderungen der Säkularisation der geistlichen Güter zum Besten des Volks und der einigen und unteilbaren deutschen Monarchie ausgesprochen; zwei Forderungen, die von nun an bei der entwickelteren Fraktion der Bauern und Plebejer regelmäßig wieder erscheinen, bis Thomas Müntzer die Teilung der geistlichen Güter in ihre Konfiskation zum Besten der Gütergemeinschaft und das einige deutsche Kaisertum in die einige und unteilbare Republik verwandelt.

Der erneuerte Bundschuh hatte, wie der alte, seinen geheimen Versammlungsort, seinen Eid der Verschwiegenheit, seine Aufnahmezeremonien und seine Bundschuhfahne mit der Inschrift: „Nichts denn die Gerechtigkeit Gottes!“ Der Plan der Handlung war dem der Elsässer ähnlich; Bruchsal, wo die Majorität der Einwohner im Bunde war, sollte überrumpelt, dort ein Bundesheer organisiert und als wandelndes Sammlungszentrum in die umliegenden Fürstentümer geschickt werden.

Der Plan wurde verraten durch einen Geistlichen, dem einer der Verschwornen ihn gebeichtet hatte. Sogleich ergriffen die Regierungen Gegenmaßregeln. Wie weit der Bund verzweigt war, zeigt sich aus dem Schrecken, der die verschiedenen Elsässer Reichsstände und den Schwäbischen Bund ergriff. Man zog Truppen zusammen und ließ massenhafte Verhaftungen bewerkstelligen. Kaiser Maximilian, der „letzte Ritter“, erließ die blutdürstigsten Strafverordnungen gegen das unerhörte Unternehmen der Bauern. Hier und dort kam es zu Zusammenrottungen und bewaffnetem Widerstand; doch hielten sich die vereinzelten Bauernhaufen nicht lange. Einige der Verschwornen wurden hingerichtet, manche flohen; doch wurde das Geheimnis so gut bewahrt, dass die meisten, selbst der Führer, entweder in ihren eigenen Ortschaften oder doch in benachbarter Herren Ländern ganz ungestört bleiben konnten.

Worterklärungen
Pantheismus: Religiöse Lehren, die anstelle eines personifizierten Gottes die Natur, die Welt oder den Kosmos als göttlich betrachten.
Spekulative Anschauungsweise: Denken, das die Wahrheit an sich zum Gegenstand hat und über die empirische oder praktische Erfahrung hinausgeht.
Atheismus: Weltanschauung, die den Glauben an einen Gott oder Götter ablehnt.
Februarrevolution: bürgerliche Revolution in Frankreich 1848. Leitete die revolutionäre Krise in Europa ein.
Grundsuppe: schlechter Bodensatz, Brutstätte für das Schlechte
philiströs: kleinbürgerlich-engstirnig
Doktrin: System von Ansichten und Aussagen, Leitlinie
Disputation: wissenschaftliches Streitgespräch
Bergknappen: einfache Bergleute
Wiedertäufer: Christliche Sekten, die das Neue Testament wörtlich auslegten. Sie traten ein für ein Zusammenleben als Bruderschaft, Glaubensfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat und die Gütergemeinschaft. Diese Glaubensrichtungen wurden massiv verfolgt.
Dogma: Lehrsatz, dem aufgrund kirchlicher Autorität Wahrheit zugeschrieben wird
Emissär: Bote mit geheimem Auftrag
Sakrament: festgelegter christlicher Ritus, etwa die Taufe
Mit Beschlag belegen: beschlagnahmen
Prophetismus: Verbreitung der Botschaft Gottes
Insurgiert: aufgewiegelt, aufgestachelt
Reliquie: Gegenstand kultischer religiöser Verehrung
Amulett: magischer Glücksbringer
Säkularisation: Trennung von Staat und Kirche, hier im Sinne der Übertragung kirchlichen Eigentums in staatliches
Konfiskation: Beschlagnahme, hier im Sinne der entschädigungslosen Enteignung
Kaiser Maximilian: Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ bis zu seinem Tod 1519. Versuchte die Zentralgewalt zulasten der Fürsten zu stärken und berief sich dafür auch auf die „ritterlichen Tugenden“, weshalb er der „der letzte Ritter“ genannt wurde.
Einwohnerzahlen um 1525:
Bruchsal: 2.700
Speyer: 7.500
Würzburg: 5.400

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"Revolutionäre Propheten", UZ vom 13. Dezember 2024



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