Aus einem Interview der Wochenzeitung „Moustique“ mit David Pestieu, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der Partei der Arbeit Belgiens
Moustique: Ähnelt unsere Zeit jener, die durch die Oktoberrevolution umgestürzt worden war?
David Pestieu: Die „russische“ Revolution von 1917 ist nicht auf Russland beschränkt. Es ist ein internationales Phänomen. Zu der Zeit führte die Krise des Kapitalismus zu einem Krieg – dem ersten Weltkrieg mit seinen verschiedenen Blöcken, die sich die Märkte aufgeteilt hatten – und den Aufständen, die überall in Europa ausbrachen. In Großbritannien 1916, in Italien, Ungarn, in Deutschland. Ich habe den Eindruck, dass wir seit 2008 die gleiche Art des Phänomens erleben. Und nicht nur in Europa, in Lateinamerika, in Asien, in Nordamerika. Dass Bernie Sanders, der sich als Sozialist definiert – was bei uns einem Kommunisten gleichkommt – fast US-amerikanischer Präsidentschaftskandidat geworden wäre, ist für mich ein bemerkenswertes Zeichen. Und dann gibt es eine beträchtliche Beschleunigung des Arbeitsrhythmus. Die Explosion der Burn-outs ist kein Zufall. Was bei Lidl passiert, wo offen Überwachungstechnik eingesetzt wird, um noch mehr Leistung herauszuholen, das sind Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ in der Version des 21. Jahrhunderts. Und dann hat der Ökonom Piketty demonstriert, dass wir eine Konzentration des Reichtums und der sozialen Ungleichheit haben, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte. Schließlich spüren wir, dass die Welt – wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts – von neuem in einen Krieg stürzen kann, die Reibungen zwischen den USA und China sind ernst.
Moustique: Ist eine neue Revolution möglich?
David Pestieu: Unsere Epoche ähnelt in vielem der Zeit um 1917, und ist dabei doch ganz neu. Aber ich glaube nicht, dass sich Geschichte wiederholt. Und ich glaube nicht, dass man die Revolution wie vor 100 Jahren machen muss. Aber ich weiß, dass man den Kapitalismus überwinden muss. Denn wenn der Kapitalismus einst der Menschheit nützte, indem er die Welt vom Feudalismus befreite, so sieht man heute – nicht nur durch den Klimawandel – dass er die Welt zerstören kann …