Von einem „Rentenkrieg“ sprach nicht nur die damalige Presse in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) – auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) greift bezogen auf die Auseinandersetzung in den Jahren 1956/57 in einem Artikel vom 9. Juni 2021 auf diesen martialischen Ausdruck zurück.
Unberechtigt ist er nicht als Bezeichnung dessen, was dem Beschluss des Deutschen Bundestags vom 21. Januar 1957 vorausgegangen war. Nach einem viertägigen Redemarathon war zwar mit einer großen Mehrheit von 397 gegen 32 Stimmen die damalige Rentenreform verabschiedet worden – aber unter den zehn Enthaltungen war auch beispielsweise die des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard (CDU), der sich ebenso wie Finanzminister Fritz Schäffer (CSU) hartnäckig gegen ihren Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) gewehrt hatte, der diese Reform schließlich durchsetzte.
Kern der damaligen Gesetze war vor allem die Umstellung der staatlich garantierten Altersversorgung von der Kapitaldeckung auf die Umlagedeckung. Die mit dem Namen Fürst Otto von Bismarck verbundene „Invaliditäts- und Altersversicherung“ aus dem Jahre 1889 beruhte auf dem Prinzip der Kapitaldeckung: Die Einnahmen aus den Einzahlungen von Arbeitern und Angestellten einerseits und Unternehmern andererseits wurden in einen Kapitalstock eingespeist, aus dem heraus dann – damals noch mit Renditen, die heute undenkbar erscheinen – Rentenzahlungen erfolgen sollten.
Mit dieser Tradition wollte Adenauer brechen – gestützt auf Vorschläge aus der katholischen Soziallehre, die namentlich Professor Wilfried Schreiber, Geschäftsführer des Bundes katholischer Unternehmer, zu Papier gebracht hatte.
Die DDR leistete Geburtshilfe
Die seit Mitte der 50er-Jahre entstandene Situation erinnerte in ihrer Grundstruktur an die Motivationslage, die den Erzreaktionär Bismarck zu seiner wohl weitreichendsten sozialpolitischen Maßnahme getrieben hatte. Im 19. Jahrhundert war es das Erstarken der damals noch revolutionären Sozialdemokratie, das dazu führte, dass – gegen innere Widerstände – die Reichsregierung sich schließlich zu Zugeständnissen gezwungen sah, um ein weiteres Anwachsen dieser politischen Kraft zu dämpfen. Im 20. Jahrhundert war es die Ausstrahlung der in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) an die Macht gekommenen Arbeiterklasse und ihre seit 1947 eingeführte, grundlegend andere Konstruktion der Altersversorgung. Sie beruhte nicht mehr auf dem Kapitaldeckungsverfahren, sondern auf dem Umlageverfahren. Dessen Prinzip ist einfach: Die aktiv im Berufsleben stehenden Menschen zahlen einen Teil ihres Lohns in eine Kasse ein, aus der dann direkt die altersbedingt aus der Berufstätigkeit ausgeschiedenen Menschen eine lebenslange Rente erhalten. Solche Umlagesysteme waren nicht nur dem Sozialismus eigen – auch die USA hatten 1936 als Teil des „New Deal“ in der Amtszeit des Präsidenten Franklin D. Roosevelt dieses Modell übernommen.
Die politische Lage im westdeutschen Rumpfstaat war Mitte der 50er-Jahre aus Sicht seines Kanzlers prekär: Die von Adenauer durchgepeitschte Remilitarisierung hatte nicht nur milliardenschwere Belastungen des Bundeshaushalts zur Folge, sondern seine politische Basis auch so weit geschwächt, dass in den Umfragen ein Verlust der Kanzlermehrheit bei den 1957 anstehenden Bundestagswahlen drohte. Unmut hatte sich nicht nur – wegen der Remilitarisierung – bei den jüngeren Wahlberechtigten, sondern auch bei den älteren angestaut. Sie nämlich wurden von den damals ansteigenden Löhnen immer mehr abgekoppelt. In der Dokumentation des Deutschen Bundestags über die Rentenreform 1957 heißt es: „Mitte der 1950er-Jahre lag das mittlere Monatsgehalt bei etwa 350 D-Mark. Ein Durchschnittsrentner musste mit 60 bis 80 D-Mark über die Runden kommen.“ Viele Rentnerinnen und Rentner hatten durch den Krieg aber nicht nur alle privaten Ersparnisse verloren, sondern auch ihre Kinder, die sie sonst vielleicht hätten durchbringen können. Wer da kein Eigentum an Grund und Boden oder Produktionsmitteln hatte, sah im wahrsten Sinne des Wortes alt aus. So kam es zu der Situation, dass – wie der Eintrag von „Wikipedia“ zur 1957er-Reform aufzeigt – „die Mindestrenten in der Bundesrepublik bis 1957 sogar niedriger (waren) als die in der DDR, und die Durchschnittsrenten auf demselben Niveau“. Betrachtet man darüber hinaus, dass die damals in der DDR bestehende „Sozialversicherung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“, dem seit 1951 die Organisation der Altersversorgung anvertraut war, auch eine kostenlose Gesundheitsversorgung und großzügige Rehabilitationsleistungen umfasste, war klar: Politisch herrschte in Bonn am Rhein Feuer unterm Dach.
„… wahrlich tragischer Irrtum …“
Dietrich Creutzburg schreibt in dem schon erwähnten „FAZ“-Artikel bezogen auf die heutige Rentendebatte: „Sozialpolitik wird immer öfter mit Umverteilen und Geldausgeben gleichgesetzt. Das greift zu kurz – und untergräbt die Bereitschaft zur Eigenverantwortung und damit die Grundlagen unseres Wohlstandes.“
Nicht nur diesem Autor, sondern auch zumindest den historisch gebildeten Gegenreformatoren seinesgleichen ist völlig bewusst, dass sie im Kern versuchen, Rache zu nehmen für die Niederlage, die diejenigen 1957 erlitten, die zum Teil mit Schaum vor dem Mund versucht hatten, das Umschwenken von der Kapital- zur Umlagefinanzierung abzuwenden. Ihre Phalanx war (und ist es auch heute) stark: Sie reichte damals von praktisch allen Unternehmerverbänden und den Banken bis hin zu den Spitzen des Wirtschafts- und des Finanzministeriums. Ihr Wortführer Erhard hatte seinem Kanzler entgegengeschleudert: „Die Blindheit und intellektuelle Fahrlässigkeit, mit der wir auf den Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat zusteuern, kann nur zu unserem Unheil ausschlagen. Hier liegt ein wahrlich tragischer Irrtum vor, denn man will nicht erkennen, dass wirtschaftlicher Fortschritt und leistungsmäßig fundierter Wohlstand mit einem System umfassender kollektiver Sicherheit auf Dauer gänzlich unvereinbar sind.“
Die damaligen Prognosen, was alles Folge dieser Reform sein würde, klingen heute hochmodern – und waren damals so gegenstandslos, wie sie es auch morgen sein werden: Die von Adenauer im Gefolge von Schreiber vorgeschlagene Dynamisierung der Renten würde die Inflation fördern und die Reform würde durch die Belastung der Unternehmen zu einer Hemmung der Investitionstätigkeit führen.
Die „Dynamisierung“ der Renten, die heute erneut angegriffen wird, war neben der Umstellung auf das Umlagesystem einer der weiteren Kernpunkte der Debatte. Es sollte durch Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung sichergestellt werden, dass die Rentenempfänger am wirtschaftlichen Aufschwung, zu dem sie ja schließlich – damals wie heute – die Grundlagen mit gelegt hatten, teilhaben.
Die der schließlich beschlossenen Reform zugrundeliegenden Pläne Schreibers waren allerdings noch weitergehend – und auch dies klingt heute hochmodern: Er hatte vorgeschlagen, die „Gesamtheit aller Arbeitstätigen“ verpflichtend in die Rentenkasse einzahlen zu lassen und alle noch von Bismarck übernommenen Beitragsbemessungsgrenzen aufzuheben. So sollte es neben einer möglichst breiten Basis zu einer „Stetigkeit ihrer Rechnungsgrundlagen über alle möglichen Strukturveränderungen der Wirtschaftsgesellschaft und ihrer Zusammensetzung nach Beruf und Erwerbsart“ kommen. Kinderlose sollten doppelt so viel Beitrag zahlen wie Arbeitende, die mit ihrem Lohn noch Kinder zu versorgen hatten, und die Zahl der Kinder sollte in der späteren Rente Berücksichtigung finden. Aus diesen Vorstellungen ist überwiegend nichts geworden – Abrieb im politischen Tagesgeschäft sozusagen, das aus Sicht Adenauers das Hauptziel erreicht hatte: Die mit seinem Namen verbundene Rentenreform sicherte ihm 1957 trotz Remilitarisierung seinen größten Wahlsieg und der CDU/CSU die absolute Mehrheit der Sitze im bundesdeutschen Parlament. Dafür war auch die rückwirkende Inkraftsetzung der neuen Berechnungsmethoden zum 1. Januar 1957 entscheidend, die eine sofort wirksame massive Rentenerhöhung um durchschnittlich rund 60 Prozent in die Geldbörsen der alten Menschen spülte. Viele von ihnen wurden fortan zu Stammwählern des „Alten“.
Die Attacke von SPD und Grünen
Zwar bröckelte von Anfang an die sogenannte „Eckrente“ – das ist die Rente einer statistischen Person, die 45 Jahre aus einem Durchschnittseinkommen ihre Beiträge bezahlt –, die nach den Vorstellungen von Schreiber 60 Prozent der während der aktiven Zeit erreichten Bruttobezüge umfassen sollte. Aber im Grundsatz hielt das Versprechen, dass dank Umlageverfahren und Dynamisierung sich niemand im Alter massiv würde einschränken müssen.
Oberwasser bekamen diejenigen, die seinerzeit gegen die Reform von 1957 angerannt waren, erst nach 1989, nach dem Sieg über die DDR und die von ihr wesentlich mit beeinflusste Umgestaltung der staatlich garantierten Altersvorsorge.
Trotz aller Angriffe in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren hielt die Grundkonstruktion der Reform von 1957, sodass auch der damalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU), der sich selbst in der Tradition der katholischen Soziallehre sah, 1986 demonstrativ plakatieren konnte: „… denn eins ist sicher: Die Rente“.
Während Blüm noch als Plakatierer unterwegs war, arbeiteten andere bereits daran, eine Bresche in diese bis dahin feste Mauer zwischen Kapitalmarkt und Rente zu schlagen. Die im Wortsinn damals entscheidenden Personen kamen nicht aus den reaktionärsten Kreisen, sondern waren (und sind) die Lehrer derer, die sich jetzt als Alternative zur CDU in Szene setzen. Sie saßen in der ersten Regierung unter Beteiligung der „Grünen“, angeführt vom SPD-Kanzler Gerhard Schröder (vgl. dazu UZ vom 21. Mai – „Endlich ausgeriestert?“).
Sie operierten zunächst im Geheimen, wie der damalige Bundessozialminister Walter Riester in einem großen Interview in der „FAZ“ am 7. Juli ausplauderte: „Ich habe meine Gesprächspartner im Kabinett gebeten, bevor ich diesen Vorschlag ausformuliere, es nicht in die Öffentlichkeit zu bringen.“ Das ging schief, jammert der alte Herr – drei Tage später habe die „Bild“ bei ihm angerufen und ihn mit der Drohung, ihn sonst mit der Frage „Wann fliegt Riester?“ auf Seite eins zu skandalisieren, zu einem Interview genötigt, wo er seine Pläne – damals noch eine Rente nach dem Vorbild der KfZ-Versicherung, also obligatorisch für alle Lohnabhängigen – darlegte. Genützt habe das nichts: Thematisiert worden sei sein Vorschlag von da an nur unter dem Begriff „Zwangsrente“ – und den Zwang habe die SPD/Grüne-Regierung dann fallengelassen. Es blieb also übrig: Eine Bresche im Umlageverfahren und ein Brückenkopf für die Rückkehr zum Bismarckschen Kapitaldeckungsverfahren.
Zurück zu Bismarck?
Wir wissen aus der Geschichte: Auf eine halbe Revolution folgt meist eine ganze Konterrevolution. Das gilt im Großen wie im scheinbar Kleinen. Wenn wichtige Pflöcke, die eine Rechtsentwicklung hemmen, weggerissen sind, geht es in der Regel nicht nur bis zu den alten Haltelinien, die durch diese Pflöcke markiert waren, sondern noch weiter zurück. Alle Angriffe auf die Struktur der 1957er-Rentenreform zielen nicht nur auf die Wiederherstellung der bis 1956 geltenden Grundprinzipien. Die Angreifer werden nicht eher ruhen, bis die Eckpunkte der Bismarckschen Sozialgesetzgebung wiederhergestellt werden. Diese bestanden nicht nur in der Kapitaldeckung, die durch die für die Altersversorgung gesparten Groschen (oder Cent) auch jedem Großspekulanten und Kriegsabenteurer die Kasse füllt. Sie führten auch zu Hungerrenten, die damals – in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts – keine Vollversorgung der Alten, sondern nur einen Zuschuss zur weiter notwendigen Unterstützung durch Kinder und andere Verwandte bedeuteten. Die heutigen Schwarzen Ritter gegen Umlageverfahren, Dynamisierung und staatliche „Eckrenten“ scheinen auch immer mehr in den Fokus zu nehmen, was eben auch Teil des Beschlusses des Deutschen Reichstags vom 24. Mai 1889 war: Altersrente erst ab 70.
Umlageverfahren:
Im Umlageverfahren werden grundsätzlich die Ausgaben eines Jahres durch Einnahmen aus demselben Jahr bestritten. Dieses Finanzierungsprinzip findet in der gesamten deutschen Sozialversicherung Anwendung. Der Sozialaufwand eines Landes wird damit aus dem laufenden Sozialprodukt finanziert. Ein Ansparen ist nicht erforderlich. Das Umlageverfahren ist sehr flexibel, wenig krisenanfällig, sehr preiswert und funktioniert praktisch unabhängig von der Höhe der Zinsen am Kapitalmarkt oder der Inflationsrate. Gerade in Zeiten, in denen Ersparnisse praktisch nicht verzinst werden, zeigt sich seine Überlegenheit im Vergleich mit kapitalgedeckten Anlageprozessen, wie sie etwa im Bereich der Lebensversicherungen üblich sind.
Aus „luxemburg argumente Nr. 18“ herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.