Im Falle des Polizeimords in Dortmund an dem 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé kommt jetzt scheibchenweise ans Licht, was sich an jenem Nachmittag des 8. August im Innenhof der Jugendhilfeeinrichtung St. Antonius abgespielt hat. Die neuen Erkenntnisse liefert nicht das nordrhein-westfälische Innenministerium, sondern Medien, denen polizeiinterne Untersuchungsberichte vorliegen, und Oppositionspolitiker, die Innenminister Herbert Reul (CDU) im Landtag auf den Zahn fühlen.
Die Lokalzeitung „Ruhr Nachrichten“ zeichnete den Tathergang minutiös nach, gestützt auf eine Sitzung des Rechtsausschusses des Düsseldorfer Landtags am 14. September und dem in dieser Sitzung zitierten Polizeilichen Einsatzprotokoll der Leitstelle des Polizeipräsidiums Dortmund. Demnach rief ein Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung um 16.25 Uhr den Polizeinotruf an, weil Mouhamed Dramé gedroht habe, sich selbst mit einem Messer zu verletzen. Der Betreuer erwähnte dabei die Suizidabsicht des traumatisierten Jugendlichen, der unbegleitet aus dem Senegal nach Deutschland geflohen war, und wies darauf hin, dass Dramé kein Deutsch, wohl aber Französisch sprach. Um 16.28 Uhr vergab die Einsatzstelle den Einsatz. Eine Minute später erreichte der erste Streifenwagen die Jugendhilfeeinrichtung im Dortmunder Norden. Mouhamed Dramé saß wohl alleine mit einem Messer in der Hand in einer Ecke des geschlossenen Innenhofs der Einrichtung. Um 16.42 Uhr hätten Polizisten sich dem Jugendlichen auf „drei bis vier Meter“ genähert, ohne von ihm gesehen worden zu sein. Zwei Minuten darauf sollen Beamten Dramé angesprochen haben – angeblich auf Englisch und Spanisch. Ob Mouhamed überhaupt aufgefordert wurde, das Messer fallen zu lassen, ist noch nicht geklärt.
Um 16.46 Uhr besprühten ihn Polizisten mit Reizgas, abgelaufen im April diesen Jahres, mit solchen Mengen davon, dass ihm die Flüssigkeit über den Kopf lief. Die Staatsanwaltschaft Dortmund erklärte gegenüber dem „WDR“-Magazin „Monitor“: „Als dem Jugendlichen die aufgesprühte Flüssigkeit über den Kopf lief, stand er auf, wischte sich mit einer Hand über den Kopf und wendete sich mit einem Schritt nach rechts. Unmittelbar danach setzten eine Polizeibeamtin und ein Polizeibeamter die Distanz-Elektroimpulsgeräte ein.“ Der erste Schuss aus diesen Elektroschockpistolen soll nicht richtig getroffen haben, der zweite allerdings schon. „Sehr zeitnah – gegebenenfalls sogar zeitgleich zu dem Einsatz des zweiten Geräts – gab ein Polizeibeamter sechs Schüsse aus der mitgeführten Maschinenpistole ab“, so die Staatsanwaltschaft. Das war gegen 16.47 Uhr.
Wann soll Mouhamed Dramé auf die Polizisten zugelaufen sein, wie Polizei und Innenministerium kurz nach seiner Ermordung behauptet hatten?
Um 18.02 Uhr starb der Jugendliche in einem Krankenhaus an seinen Verletzungen.
Innenminister Reul rudert jetzt etwas zurück. „Obwohl sich auch für mich zunehmend Zweifel ergeben, gilt die Unschuldsvermutung“, sagte er der „Welt“. Deutlicher wurde der ermittelnde Oberstaatsanwalt Carsten Dombert: „Wir gehen davon aus, dass der Einsatz, so wie er abgelaufen ist, und zwar von Beginn an – nicht verhältnismäßig gewesen ist.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelt mittlerweile gegen fünf der zwölf Polizisten, die an dem „Einsatz“ beteiligt waren (siehe UZ-Blog vom 2. September: kurzelinks.de/staatsanwaltschaftermittelt). Der Schütze ist des Totschlags verdächtig.
Neben der Frage, ob überhaupt jemand während des „Einsatzes“ durch Dramé gefährdet war, sind noch viele weitere offen: Weshalb eskalierte die Polizei die statische Lage? Weshalb forderten die Beamten weder Dolmetscher noch Psychologen an? Weshalb schalteten sie keine „Verhandlungsgruppe“ ein, eine für solche Situationen geschulte Polizeieinheit? Eine solche ist in Dortmund stationiert. Weshalb gab der Todesschütze sechs Schüsse ab? War seine Maschinenpistole illegalerweise auf „Dauerfeuer“ eingestellt?
Die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Ein Video des Tathergangs soll es nicht geben, lediglich das eines Anwohners, der erst nach den Schüssen zu filmen begann. Für mehr Klarheit könnte der Audiomitschnitt des Notrufs des Betreuers sorgen, auf dem auch noch die Schüsse aus der Maschinenpistole zu hören sind. Die Aufnahme wird derzeit vom Bundeskriminalamt ausgewertet.
Angesichts der erbärmlichen Aufklärungsquote bei Polizeigewalt in Deutschland und der entrüsteten Zurückweisung jeglichen Rassismusverdachts gegen Polizisten durch Innenminister Reul bleibt fragwürdig, ob die ganze Wahrheit über den Polizeimord von Dortmund ans Licht gelangen wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.