Hannelore Cayres neuer Krimi entführt in eine andere Zeit

Resolute Steinzeitfrau

Alles beginnt wie in einem „ganz normalen“ Krimi: In der französischen Dordogne lässt sich eine Frau einen Swimmingpool ausheben, ohne Baugenehmigung natürlich. Die polnischen Bauarbeiter stoßen bei den Grabungen auf Knochen, alte Knochen. Und statt sich vor der Hitze des französischen Sommers in kühles Nass retten zu können, sieht sich die Hausbesitzerin mit paläontologischen Ausgrabungen konfrontiert. Denn die Knochen sind 35.000 Jahre alt und liegen in einer Höhle, deren Wände gesäumt sind mit den Abdrücken verstümmelter Frauenhände.

Wie es der Hausbesitzerin ergeht, ob sie in Anbetracht der fehlenden Baugenehmigung eine Strafe zu zahlen hat oder ob sie die Bauarbeiter bezahlt, obwohl der Pool niemals fertiggestellt wird, erfahren die Leser von Hannelore Cay-res „Finger ab“ nicht. Denn das Buch besteht – zusammengehalten von Auszügen aus der Rede der Paläontologin, die die Ausgrabung geführt hat – aus einem Krimi, der vor 35.000 Jahren spielt.

Anders als die anderen Frauen in ihrer Sippe ist Oli aufmüpfig. Sie will jagen und sich vernünftig ernähren, statt sich mit den Abfällen der Jäger zu begnügen. Sie hat kein Interesse an Sex, will keine Kinder, sondern will die Welt kennenlernen. Vor allem aber will sie sich von dem Oberhaupt der Sippe, dem „ältesten Onkel“, keine Vorschriften mehr machen lassen. Doch der regiert mit strenger Hand und interpretiert die alten Regeln noch strenger als seine Vorgänger. Zu diesen Regeln gehört auch, Frauen, die aufmucken, einen Finger abzuschneiden. Davon zeugt die „Höhle der Ahninnen“, in der auch Oli einen Abdruck ihrer geschundenen Hand hinterlässt und in der das Drama seinen Höhepunkt findet, das eine Paläontologin 35.000 Jahre später zu entschlüsseln sucht.

Hannelore Cayre verfolgt in ihrem Krimi der besonderen Art vor allem zwei Ideen: Erstens, was wäre, wenn die Paläontologie die patriarchale Brille abnehmen würde und eine Geschichte von Frauen erzählen würde? Und zweitens: Was käme dabei heraus, wenn wir uns unsere Vorfahren nicht als grunzende Höhlenbewohner vorstellen würden, sondern als Menschen mit Sprache und Geschichten? Denn eine Sprache müssen sie gehabt haben, es gibt Beweise für ihre Arbeitsteilung. Nur aufgeschrieben haben sie sie nicht.

Was dabei herauskommt, ist ein teilweise gelungenes Experiment. Gelungen ist die (Emanzipations-)Geschichte von Oli und ihrer Sippe, der Cayre so eigene beißende Spott (in diesem Fall für die sich überlegen fühlenden Männer) inklusive. Oli erkennt im besten Sinne des Wortes die Welt. Sie trifft auf andere Sippen, sie trifft auf Neandertaler und – obwohl zuerst durch ihre blasse Erscheinung erschrocken – erkennt sie in ihnen Menschen, wenn auch andersartige. Sie kommt durch Beobachtungen zu Schlussfolgerungen und macht sich die Umwelt durch Erfahrungen zunutze. Und sie wehrt sich gegen die sexistische Unterdrückung, die ihr und den Frauen ihrer Sippe widerfährt. Sie ist nicht nur Zeugin, sondern Protagonistin der Entwicklung der Menschheit.

Schwierigkeiten bekommt man als Leserin da, wo das Experiment mit der heutigen Sprache der Steinzeitmenschen an seine Grenzen stößt. Oli kann über Lust und Sex reden wie wir, unterscheidet sich der Akt schließlich auch nach Jahrtausenden nicht von seiner Ursprungsfassung. Oli kann aus Beobachtungen zu Erkenntnissen kommen, zum Beispiel als sich eine aus ihrer Sippe kurzfristig mit einem Neandertaler zusammentut und neun Monate später ein Kind zur Welt bringt. Bis dahin ging Olis Sippe davon aus, dass Männer mit den Kindern, die Frauen in schöner Regelmäßigkeit zur Welt bringen, nichts zu tun haben. Nachdem Oli das Kind zu sehen bekommt, das die blasse Farbe der Neandertaler hat, ist ihr klar, dass Sex, die Männer und womöglich ihr „weißes Zeug“ damit zu tun haben. Dass sie kurz darauf von Spermien spricht, ist albern. Intelligenz und Auffassungsgabe ersetzen kein Mikroskop. Ähnlich verhält es sich mit moralischen Kategorien. Auch diese müssen erst erfunden werden. Wenn es vor dem in der Geschichte stattfindenden Mord keinen solchen gab – woher kommt dann auf einmal das Wort für diese spezielle Art der Tötung?

Man hätte dem Experiment von Hannelore Cayre ein bisschen mehr Abwägung gewünscht. Und wünscht sich nach der Lektüre noch mehr, dass die Wissenschaft vom Menschen auch, aber nicht nur, in ihrer Paläo-Form endlich die Brille des Patriarchats ablegt. Dann könnte man(n) vielleicht noch was lernen.

Hannelore Cayre
Finger ab
Ariadne Verlag, 204 Seiten, 15 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

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"Resolute Steinzeitfrau", UZ vom 29. November 2024



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