Reserve des Kapitals

Manfred Sohn über die stille Etablierung der AfD

Wo sie recht haben, haben sie recht: Während sich in Deutschland die Mitglieder und Anhänger der „Grünen“ selbst besoffen reden und sich kurz vor dem Kanzleramt wähnen, titelte das Leitorgan der AfD, die „Junge Freiheit“, am 31. Mai nüchtern: „Der deutsche Sonderfall – nach der Europawahl finden wir die politische Landschaft der EU umgepflügt.“ Das braune Blatt verweist darauf, dass nun die stärkste Einzelpartei im Europäischen Parlament nicht mehr wie einst die CDU, sondern die Brexit-Party sei, gefolgt von der Lega des italienischen Innenministers Matteo Salvini. Klar ist, dass die europäische Sozialdemokratie mit dem Verlust von 39 Sitzen der große Verlierer der Wahlen vom 26. Mai ist – aber der große Gewinner ist nicht die Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz mit ihren überwiegend dem deutschen Ergebnis geschuldeten Zugewinn von 17 Sitzen, sondern eben die rechteste Fraktion der „Europäischen Allianz der Völker und Nationen“ mit nun 34 Sitzen mehr als nach den letzten Wahlen.

Das alles hat schon jetzt erkennbar Auswirkungen auf die Überlegungen der Herrschenden dieses Landes hinsichtlich der Frage, welche politische Kraft sie zur Durchsetzung ihrer Klasseninteressen aufs Spielfeld schicken solle.

Vor den Wahlen noch, am 24. Mai, hatte der Chefredakteur der rechten „Wirtschaftswoche“ die „Entlarvung eines Rechtspopulisten“ gefeiert. Unter der Überschrift „Make Ibiza great again“ markierte er die um die FPÖ herum gruppierten europäischen Kräfte als „Europas größten Wettbewerbsnachteil“ und begründete das mit dem Satz: „Denn nur als Einheit kann der alte Kontinent im Powerplay mit den USA und China bestehen.“ Wie viele andere erwartete er, dass in Österreich der Niedergang der Kraft begönne, die ihren Aufstieg aus den Alpen heraus begonnen hatte. Aber die FPÖ hielt sich mit 17,2 Prozent der Stimmen erstaunlich stabil, Strache zum Trotz.

Es wird kein Zufall gewesen sein, sondern ist im Zusammenhang mit diesem Nichtscheitern der rechten Welle zu sehen, wenn am 7. Juni die „Frankfurter Allgemeine“ fast ihre ganze erste Seite der Frage widmete, wie es denn politisch weitergehen solle mit diesem Land. Wenige Tage zuvor hatte Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und Gastgeber des traditionsreichen „Tages der Deutschen Industrie“, im Beisein der Bundeskanzlerin quasi den Stab über die Bundesregierung gebrochen. Die FAZ kommentiert nach einer zweitägigen Nachdenkpause pointiert: „Mehr Groko-Frust in der Wirtschaft war nie. Der Verdruss über die große Koalition hat sich tief in das Lager der Unternehmer und Manager gefressen. Als saft- und kraftlos wird die Regierung kritisiert: Vertrauen verspielt, Unfähigkeit erwiesen, so der Tenor.“

Auf derselben Seite 1 – und dann noch einmal ausführlich zwei Seiten später – räumt das Blatt dem AfD-Parteivorsitzenden Alexander Gauland für seine Aussage zum gegenwärtigen Hype der Grünen reichlich Platz ein: „Die Klimahysterie der anderen Parteien wird die AfD nicht mitmachen. … Wir müssen abwarten, bis sich der Klima-Hype gelegt hat.“

Die AfD hat sich inzwischen – trotz der möglichen Regierungsbeteiligung der Partei „Die Linke“ in Bremen stärker als diese Partei – im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland als dazugehörende Kraft etabliert. Das gilt auch aus der Sicht des Kapitals. Deren Sicht ist, grob zusammengefasst: GroKo geht nicht mehr, denen laufen die Wähler weg – das hält noch bis 2021, aber nicht länger. Den „Grünen“ geben wir die Chance zu beweisen, dass aus ihren Sonntagsreden kein gegen das Kapital gerichtetes Alltagshandeln folgt. Wenn sie diese Chance aber versemmeln und sich gegen die Interessen der deutschen Industrie wenden, dann wird die in Italien, Polen, Österreich und anderswo schon erprobte Variante einer Rechtsregierung unter Einbeziehung der AfD verstärkt ins Spiel gebracht. Nach außen weiter lästernd, aber nach innen zunehmend wohlwollend hat sich diese Partei in aller Stille und Beharrlichkeit als Reserve des Kapitals im Wartestand etabliert.

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"Reserve des Kapitals", UZ vom 14. Juni 2019



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