Erstmals als Buch veröffentlicht – „Katja“, frühe Erzählungen der Brigitte Reimann

Reifeprüfung einer sozialistischen Schriftstellerin – Zeugnis einer neuen Gesellschaft

Allmählich, später immer schneller stieg der Ruhm der Schriftstellerin (geb. 1933) und beschleunigte sich nach ihrem frühen Tod 1973. Sie hatte bemerkenswerte Werke geschrieben – die Erzählungen „Die Frau am Pranger“ (1956), „Das Geständnis“ (1960) und „Die Geschwister“ (1963) –, aber viele Leser sahen sie im Schatten der Werke Christa Wolfs. Die beiden Autorinnen waren befreundet. Christa Wolfs Werke wirkten konsequenter, radikaler; besonders auffallend wurde das, als Rita Seidel im „Geteilten Himmel“ der Christa Wolf auf ihre Bindung an den geliebten Mann zu Gunsten ihrer Heimat, ihres Staates – der jungen DDR – verzichtete. Brigitte Reimann nutzte nicht diese Konsequenz: In der Erzählung „Die Geschwister“ kam es nicht zu der Trennung der Geschwister Uli und Elisabeth durch Republikflucht; der Plan wurde vor der Verwirklichung aufgegeben. Der Schmerz war geringer, befiel er doch kein Liebes-, sondern ein Geschwisterpaar, das bereits einen Bruder an den Westen verloren hatte. Die Schärfe des Konfliktes wurde außerdem gemildert durch Joachim, den Partner Elisabeths, der ihr blieb. Christa Wolfs Konfliktlösung war konsequenter und folgenreicher; der Zusammenbruch ihrer Rita Seidel glich einem Selbstmordversuch und unterstrich die Bedeutung der Entscheidung.

Vergleichbare Vorgänge – eine verbotene Liebe in schwieriger Zeit und mehrere historische Frauenschicksale von der Antike bis in die Gegenwart, Reste eines geplanten Novellenbandes in der Art der Anna Seghers – prägen die frühen Erzählungen, die erstmals als Buch erschienen sind. Carsten Gansel, der im vorigen Jahr eine bemerkenswerte Reimann-Biografie geschrieben hat, gab sie heraus. Einige wurden zuerst in Zeitschriften veröffentlicht. In einem Nachwort beschrieb er die Erzählungen: Sie seien aus „heutiger Sicht unglaublich modern, emanzipiert und allgemeingültig“. Darüber hinaus haben sie Bedeutung für die Bestimmung einer eigenständigen DDR-Literatur. Sie entstand durch eine Methode der Gegenüberstellung.

2411 01 - Reifeprüfung einer sozialistischen Schriftstellerin – Zeugnis einer neuen Gesellschaft - Aufbau Verlag, Brigitte Reimann, DDR-Literatur, Katja - Kultur

Der ästhetische Umgang mit der Wirklichkeit, schließlich ihre literarische Gestaltung führte zu Merkmalen der DDR-Literatur, die sie von anderen Literaturen unterschied: Die außergewöhnliche Bedeutung mythischer Figuren und Handlungen – von Odysseus bis Sisyphos – war ein solches Merkmal, ein anderes ihre Aufmerksamkeit für ambitionierte Frauen. Die entstehende DDR-Literatur nutzte ein mit mythischen Inhalten gefülltes Arsenal. Sie wurden für die Vermittlung neuer Werte und ungewohnter Lebensentwürfe genutzt. Brigitte Reimann, bei der in dem Fragment gebliebenen Roman „Franziska Linkerhand“ ein ausgeprägtes mythisches Panorama zu finden ist, nutzte in der Frühphase ihres Schaffens – aus der Abiturientin war in kürzester Zeit und ohne Studium eine Lehrerin geworden – eine auffallende Methode, die in Varianten auch von anderen Schriftstellerinnen dieser Generation genutzt wurde: von Irmtraud Morgner und Helga Schütz, von Maxi Wander und – ansatzweise mindestens – von Sarah Kirsch. Sie verwendeten in ihrer Prosa literarische Gestaltungsmittel einer früheren realistischen Literatur und setzten Schlagworte des neuen Lebens dagegen. In „Katja“ finden sich dazu Varianten: Das Schultheater spielt eine große Rolle; die Ich-Erzählerin strebt zum Theater. In der Erzählung „Die Geschwister“ wird die Berufskunst durch die Volkskunst und Zirkel verschiedenster Art – malende Arbeiter – ergänzt.

Die Eröffnungen der frühen Texte lassen Vorbilder erkennen, die von den Eltern der Reimann oder in der Schule gepflegt wurden und die die bildungsbeflissene Tochter prägten. Ähnliches geschah auch mit der bildenden Kunst. Deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts wie Raabe, Keller und Fontane, stellvertretend genannt, gaben Muster ab, die die Reimann begeistert adaptierte; selbst triviale Varianten begeisterten emotional-sinnlich: „Wenn die beiden Jonas und Karla in den Pausen über den Hof spazierten, weiß jeder, dass sie zusammen gehören“; ähnliches steckt in dem Bild, das seit der Romantik fast zum Stereotyp wurde: „wie Glückskinder die Blaue Blume finden“. Mit diesen Traditionen, die sie für sich annahm, lebte Brigitte Reimann. Beispiele sind in den frühen Erzählungen zahlreich, sich auf die Gefühle der Autorin – eine gefühlsstarke Frau – gründend. Problematisiert und konfliktbeladen wurden solche Passagen durch Schlagworte, die für die sozialen und politischen Ziele, das veränderte Geschichtsbild und die neuen Beziehungen standen, aber (noch) keine breit darstellbare Entsprechung in der Wirklichkeit hatten.

Die Zeit um 1950, nach einem der schrecklichsten Kriege – bisher –, sich gründend auf veränderte Verhältnisse wie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die veränderten Besitzverhältnisse, die nicht mehr vom Besitz bestimmte Bildung und so weiter, entwickelte ihr Begriffssystem, Schlagwörter oder Losungen: Das betraf Historisches wie „Sklavenaufstände“, „Sklavenhalter“, revolutionäre Losungen wie „Tor zur Freiheit“, „lernen mit Freiheit etwas anzufangen“, „Freiheit höher als Egoismus“, gegensätzliche Lebensgestaltungen und Bildung wie „die Stadt ist neu“, „Fernstudium“, „Jugendwerkhof“, „im Westen“, „Revolutionäre“, „Lernaktiv“, „Lernkollektiv“, (sehr oft) „Betriebsakademie“, „Gleichberechtigung der Frau“ oder Namen wie Stanislawski, Walter Ulbricht und FDJ signalisierten und vermittelten Veränderung.

Während die späteren Erzählungen Brigitte Reimanns – „Die Frau am Pranger“, „Das Geständnis“ und „Die Geschwister“ – Wirklichkeitsausschnitte boten, wie sie die sechziger Jahre entwickelt hatten, konzentrierten sich die frühen Erzählungen Brigitte Reimanns auf programmatische Forderungen, die von den jungen Menschen wie der Autorin angenommen wurden.

Brigitte Reimann
Katja. Erzählungen über Frauen
Herausgegeben von Carsten Gansel
Aufbau Verlag, 235 Seiten, 22 Euro

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"Reifeprüfung einer sozialistischen Schriftstellerin – Zeugnis einer neuen Gesellschaft", UZ vom 14. Juni 2024



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