Proteste gegen neoliberale Reformen in Tunesien

Reiche werden reicher, Arme ärmer

Von Manfred Ziegler

Erneut – wie mehrmals in den vergangenen Jahren – kam es in Tunesien Anfang Januar zu Protesten wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation. Auch in Sidi Bouzid kam es wieder zu Demonstrationen. Sidi Bouzid ist der Ort, in dem 2010 die Proteste begannen, die zum Sturz des damaligen Präsidenten Ben Ali geführt hatten.

Noch immer sind die Inflation und die Arbeitslosigkeit hoch, fast jeder Dritte Hochschulabsolvent findet keinen passenden Job. Die Staatsverschuldung liegt bei knapp 70 Prozent des Bruttoinlandprodukts – während sie vor dem Sturz von Ben Ali bei 39 Prozent gelegen hat.

Mit rund 2,9 Milliarden Euro ist der Internationale Währungsfonds (IWF) einer der größten Kreditgeber für Tunesien. Die harten Sparvorgaben des IWF sind für die Misere der tunesischen Wirtschaft wesentlich verantwortlich. Investitionen bleiben aus – und wie vor sieben Jahren grassiert weiterhin und unverändert die Korruption. Islamistische Organisationen schlagen Profit aus dieser Situation. Aus keinem Land zogen mehr junge Leute auf Seiten der Dschihadisten in den Krieg wie aus Tunesien.

Bei den letzten Wahlen erwiesen sich Nidaa Tounes – eine säkulare Partei – und die islamistische Ennahdha als stärkste Kräfte. Regierungschef ist seit August 2016 Youssef Chahed von der Nidaa Tounes. Er wurde mit den Stimmen der meisten im Parlament vertretenen Parteien gewählt. Letzten Endes ein später Erfolg der US-Außenpolitik: das US-Außenministerium hatte 2011 alle neu gebildeten Parteien mit unzähligen „Beratern“ überflutet und versucht, die Entwicklungen im US-Interesse zu prägen.

Die Regierung von Youssef Chahed versucht 2018 mit einem neuen Finanzgesetz neoliberale Reformen umzusetzen: Die Mehrwertsteuer wurde um ein Prozent angehoben, der Preis für Benzin heraufgesetzt, einige Importzölle wurden erhöht.

Die Reaktion waren Proteste in vielen Orten in Tunesien – in vielem ähnelten sie denen im Iran. Es begann mit kleineren Protesten gegen das Finanzgesetz, die Zulauf gewannen und in deren Verlauf es zu Diebstählen, Plünderungen und Brandstiftungen kam. Dutzende Polizeiautos wurden demoliert, zwei Polizeiwachen niedergebrannt, weitere acht geplündert.

Zu Beginn der Proteste erklärte Regierungschef Youssef Chahed noch: „Wir glauben, dass 2018 das letzte schwierige Jahr für die Tunesier wird“. Doch ähnliches wurde seit Jahren versprochen und blieb ohne Folgen.

Nach einer Woche dämmte die Polizei die Proteste ein. Ein Demons­trant wurde getötet, es gab zahlreiche Verletzte, darunter allein 97 Sicherheitskräfte. Fast 800 Menschen wurden festgenommen.

Jetzt versucht die Regierung einen anderen Weg: kostenlose Gesundheitsversorgung für Arbeitslose, 100 Millionen Dinar (ca. 335 000 Euro) zur Unterstützung für arme Familien und einen Hilfsfonds für Wohnungssuchende.

Die „Volksfront“ ist ein Bündnis linker Parteien und Gruppen. Sie verfügt über 15 von 217 Sitzen im Parlament. Zwei ihrer profiliertesten Politiker wurden in den letzten Jahren bei Anschlägen getötet. Es ist unklar, ob die Täter Salafisten waren oder ob sie in den Reihen der islamistischen Regierungspartei zu suchen sind.

Die Volksfront gibt sich mit den sozialen Maßnahmen der Regierung nicht zufrieden und unterstützte die Proteste. „Wir werden weiter Druck auf die Regierung ausüben, bis zur Revision des neuen Finanzgesetzes, das die Armen ärmer und die Reichen reicher macht“ – erklärte Hamma Hammami, der jetzige Sprecher der Volksfront auf einer der Protestkundgebungen in Tunis.

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"Reiche werden reicher, Arme ärmer", UZ vom 26. Januar 2018



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