In der kommenden Woche findet ein digitaler „Linke“-Parteitag statt, auf dem Susanne Hennig-Wellsow aus Thüringen und Janine Wissler aus Hessen zu Vorsitzenden gewählt werden sollen. Am 14. Februar veröffentlichte „Zeit-Online“ einen Gastbeitrag Hennig-Wellsows unter der Überschrift „Stellt euch vor, was wir erreichen könnten“. Die Unterzeilen fassten den Inhalt so zusammen: „Statt über die Gefahren einer Regierungsbeteiligung sollte die Linke mehr über die Chancen reden. Verantwortung zu übernehmen bedeutet, Verbesserungen umsetzen zu können.“ Das klingt merkwürdig. Die Warnung vor allzu viel Reden übers Mitregieren kommt von einer Landes- und Fraktionsvorsitzenden, die seit 2014 in einer Koalition mit SPD und Grünen regiert und sogar die CDU dazugeholt hat.
Merkwürdiger an dem „Zeit“-Artikel ist aber: Am 8. Februar hatten die scheidenden „Linke“-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger ihren Entwurf eines Wahlprogramms vorgestellt, der mit Hennig-Wellsow und Wissler abgestimmt sei. Über den sicherheitspolitischen Teil gibt es eine Kontroverse zwischen Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen und Bernd Riexinger (siehe „junge Welt“ vom 11. und 15. Februar). Hennig-Wellsow erwähnt weder Entwurf noch Debatte.
Dabei kündigt der Titel ihres Artikels Programmatisches an, allerdings ist die Sprache des Textes die einer Regierungs-Marketingagentur: Die Bundestagswahlen sind demnach eine „Richtungsentscheidung“, in der die „Weichen für die nächsten zehn, zwanzig Jahre gestellt“ werden. Es geht – was nicht falsch ist – um Klimapolitik und ökonomischen Strukturwandel, Ausbau des öffentlichen Dienstes, mehr Solidarität und Demokratie anstelle eines „Zurück“ zu Marktgläubigkeit und Konkurrenzdenken. In Sprache und Inhalt hätte das auch von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sein können: So tun, als hätte das alles nichts mit Kapitalismus, Diktat der Finanzindustrie, mit imperialistischen Kriegen und Demokratieabbau zu tun und als sei ein antisozialer und rassistischer Marktradikalismus nicht herrschende Ideologie.
Klar, Scholz beruft sich nicht wie Hennig-Wellsow auf Hans-Jürgen Urban von der IG Metall und stellt nicht das „System“ der Eigentumsverhältnisse in Frage. Scholz bezieht sich auch nicht in einem Atemzug auf Wolfgang Abendroth und die „Freiburger Thesen“ der FDP von 1971. Damit beginnt der „Zeit-Online“-Text, aber bei „sozial-ökologischer Transformation oder einem New Deal mit starkem Rot und leuchtendem Grün“ kann Scholz mit seinen „Missionen“ ohne Weiteres dabei sein.
Zusammengefasst: Laut Hennig-Wellsow bedarf es zwar mehr als einiger „Reparaturmaßnahmen“, ihr geht es aber um „eine Liste des kurzfristig Möglichen“. Sie vermeidet sorgfältig Langfristiges. Pardon, stimmt nicht. Sie schreibt von der „menschlichen Gesellschaft“, von der „einer unserer großen Denkervorfahren“ als Ziel gesprochen habe. Sozialismus? Geht nicht. Das DDR-„Unrechtsregime“ kam in Thüringen mit Hennig-Wellsow zweimal in die Präambel von Koalitionsverträgen. Irgendwann wacht offenbar der Kapitalismus in der menschlichen Gesellschaft auf, wenn Tarifverträge allgemeinverbindlich sind, Internetkonzerne Steuern zahlen und Börsenspekulanten auch, wenn regionale Energiegenossenschaften gefördert werden, Blockaden für erneuerbare Energien beseitigt werden und in einem ersten Schritt eine wirkliche Verkehrswende durch Rettung des öffentlichen Personennahverkehrs beginnt und so weiter.
Der Rest ist grün, bis auf eines: Hennig-Wellsow will nicht nur aus Theorien und Analysen schöpfen. Sie will nicht mehr nur über Frieden reden wie die Gegner von Afghanistan-, Irak-, Syrien-, Libyenkrieg und allen anderen westlichen Feldzügen, sondern mit dem „Blick des Herzens“ draufschauen. Die Chancen für schöneres Regieren müssen nur noch ergriffen werden.