Ekkehard Lieberam,
Integrationsfalle (Mit)Regieren. Wild nicht erlegt – dafür Flinte verloren,
68 Seiten, 5,– €,
pad-verlag, Am Schlehdorn 6, 59192 Bergkamen / pad-verlag@gmx.net
„Integrationsfalle (Mit)Regieren ‚Wild nicht erlegt – dafür Flinte verloren‘ … heißt die neue Streitschrift von Ekkehard Lieberam, die in der Schriftenreihe des Forums Gesellschaft und Politik im pad-verlag erschienen ist.
Hier wird gründlich und aus der Sicht der geschichtlichen Erfahrungen abgerechnet mit der Debatte um die Regierungsbeteiligung der Partei „Die Linke“ nach dem Prinzip staatsmännischer Tauschgeschäfte. Mehrere Diskussionsstränge sind zu unterscheiden. Wir erfahren, wie und warum sich die Partei „Die Linke“, angefangen von der PDS, so entwickelt hat, wie sie sich entwickelte und weshalb sie sich gern einer kritischen Analyse verweigert. Das Verhältnis zur DDR und ihrer Geschichte als Prüfstein für die Ernsthaftigkeit einer linkssozialistischen Partei wäre ein weiterer Diskussionsstrang: Statt Verteidigung der DDR, wie es nötig ist, Kriminalisierung, insbesondere in Thüringen unter „r2 g“ (Rot-Rot-Grün). In einer vorhergehenden Veröffentlichung „Der Kniefall von Thüringen. Die Linke und der Unrechtsstaat – eine Dokumentation“ (70 Seiten, Bergkamen 2014) ist der Politik- und Geschichtsverlust der Partei „Die Linke“ ausführlich beschrieben worden.
Vor allem aber werden wir mit den historischen Erfahrungen von Regierungsbeteiligungen oder Linksregierungen, so auch mit der Affäre Millerand 1899, mit dem Eintritt der SPD in das Kabinett des Max von Baden 1918, mit den Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen 1923, bekannt gemacht. „Sie entzaubern die heutigen Regierungslinken als weltfremde Politiker oder bewusste Rosstäuscher“. Ekkehard Lieberam geht weit zurück in die Geschichte der Arbeiterbewegung, wertet auf wenigen Seiten ein umfangreiches Material aus. Dabei geht es um die Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems im Zusammenspiel mit der Herausbildung einer besonderen Sozialschicht der sozialistischen Partei (einschließlich ihrer parlamentarischen Repräsentanten), als realer Träger der Integrationsideologie, die Politik und Regieren durch die Brille des Kapitals und ihrer eigenen Karriereinteressen betrachtet.
Stets gab es zwei Linien in der Frage der Regierungsbeteiligung, eine reformistische (Millerand, Ebert, Scheidemann), die dafür war, und eine revolutionäre (Liebknecht, Luxemburg), die nicht von der stückweisen Einführung des Sozialismus durch den bürgerlichen Staat oder die evolutionäre Transformation des Kapitalismus träumte, sondern dagegen war, regierungsfähig im Sinne der Herrschenden zu sein und (abgesehen von Ausnahmesituationen) regierende Partei erst auf den „Trümmern des Kapitalismus“ sein wollte. Lieberam: „Man kann als linker Tiger im Wahlkampf antreten und wird am Tag nach der Wahl als Bettvorleger landen, wenn man denn Regierungspartei wird. Darin eben besteht die Integrationsfalle des parlamentarischen Regierungssystems“, das sich im 20. Jahrhundert auch in Deutschland „zu einem funktionsfähigen politischen Regulierungsmechanismus“ entwickelte, „um linke systemoppositionelle Kräfte zu domestizieren“. Das semipräsidiale Regierungssystem der Weimarer Zeit stand mit einer erstarkenden KPD-Fraktion noch ganz im Zeichen des gesellschaftlichen Antagonismus der kapitalistischen Gesellschaft. In der Bonner Republik waren die systemkonformen Parteien nach dem Ausscheiden der KPD 1953 unter sich.“ Folgewirkung der Stellung der SPD „als Regierungspartei in Bund und Ländern war die Verstetigung der Zusammenarbeit ihrer Führungsschicht mit den Banken und Konzernen und überhaupt mit den Lobbygruppen des Kapitals“.
Ekkehard Lieberam macht die Funktionsweise dieser Integrationsfalle insbesondere am Beispiel der Thüringer Landesregierung unter Bodo Ramelow mit ihrem fast schon pathologischen Antikommunismus und dem misslungenen Praxistest für linkes Regieren im kapitalistischen Staat durchschaubar. Er kennzeichnet sie als „Neoliberalismus mit ein wenig menschlicherem Antlitz“. Eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene würde demgegenüber unweigerlich eine Machtverschiebung nach rechts zur Folge haben mit der Konsequenz einer politischen Großkatastrophe (ohne faule Zugeständnisse geht es nicht).
Anders beurteilt er die Frage einer Regierungsbeteiligung in vorrevolutionären Situationen, als möglichen Weg, um Machtpositionen im Staat auszubauen und für gesellschaftliche Umgestaltungen zu nutzen. Er untersucht in diesem Zusammenhang auch das Schicksal der Arbeiterregierungen in Thüringen und Sachsen, wie sie entsprechend den Beschlüssen des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale im Oktober 1923 entstanden. Für heute gilt: „Regierungen mit einem linken realisierbaren Transformationsprojekt gibt es unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen in Deutschland und Europa ebenso wenig wie in der Physik ein perpetuum mobile.“ Das, was da in Thüringen existiert, zerstört in zunehmendem Maße selbst die letzten Reste von widerständigem Bewusstsein in der Partei „Die Linke“ und bei den Menschen.
Ekkehard Lieberam weist noch auf eine andere Traditionslinie in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hin, die „einer aktiven Rolle der Landtage und Landesregierungen in der Sowjetischen Besatzungszone bei der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen 1946 und 1949 im Osten Deutschlands“. In der damaligen Situation sieht er ein Regieren auf den „Trümmern des Kapitalismus“ unter besonderen Bedingungen.
In seinen Schlussbetrachtungen folgt er Oskar Lafontaine, der nach den Verlusten bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt am 13. März schrieb: „Was wir jetzt brauchen ist das Gegenteil von ‚Weiter so“, nicht ein Bündnis mit dem „neoliberalen Parteienblock“, sondern ein „Bündnis gegen die neoliberale Politik“. Schlimm genug, dass diese Binsenweisheit in der Partei „Die Linke“ wie ein Donnerschlag wirkt.
Ekkehard Lieberam hat seiner Streitschrift einen informativen Anhang mit Auszügen aus 25 Dokumenten zur linken Regierungsdebatte von 1899 bis 2016 hinzugefügt.